Geistreiche Realsatire

Marlene Streeruwitz’ Roman „Nachkommen“

Wie schon in ihrem letzten Roman „Die Schmerzmacherin“ (2011), in dem die Protagonistin eine Ausbildung in einer privaten Sicherheitsfir­ma absolvierte, hat die inzwischen 64-jährige österreichische Autorin Marlene Streeruwitz wieder eine junge Frau in den Mittelpunkt des Romans gerückt. Anders als jene Amy Schreiber aus dem Vorgänger­roman darf man hinter der neuen Hauptfigur, der jungen Schriftstelle­rin (Cor)Nelia Fehn eine Streeruwitzsche Rückverwandlung vermuten, eine Art Jugend-Ego, das mit einigem Argwohn die ersten zaghaften Schritte auf der großen literarischen Bühne unternimmt.

Die Jung-Autorin befindet sich zu Beginn der Handlung auf der Beerdi­gung ihres Großvaters in Wien, der sie einst nach dem frühen Tod der Mutter aufge­nommen hatte. Die Beisetzung stellt eine Zäsur in Nelias Leben da, denn vom Fried­hof geht es direkt zum Flug­hafen. Die Nach­wuchsautorin ist mit ihrem Debütw­erk „Die Reise einer jun­gen Anarchistin in Grie­chenland“ für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Sie findet sich im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse zur Preisverlei­hung im Kaisersaal des Rö­mers ein. Sie erhält den Preis nicht (so wie Marlene Streeruwitz vor drei Jahren), empfindet dies als schlimme Niederlage, zieht sich schmol­lend wie in ein Schne­ckenhaus zurück und lehnt auch eine TV-Einla­dung ab. "Sie war aus­gelöscht worden. Ihr Text war ausgelöscht wor­den. Unprämiert."
Marlene Streeruwitz lässt ihre junge Anti-Heldin wie all ihre früheren Figuren unendlich leiden: an der zerbrochenen Familie, am eigenen Misserfolg und nicht zuletzt an den vermeintlichen Ungerechtigkeiten des Literaturbetriebs. Die hochsensible Protagonistin, deren verstorbe­ne Mutter Dora einst eine erfolgreiche Schriftstellerin, aber eben keine emotionale Bezugsperson war, trägt all jene Charakteristika, die sie zur Außenseiterin in der zeitgenössischen Literaturszene abstempeln. Politisch-soziales Engagement und Aufrichtigkeit sind ihr wichtiger als gestyltes Outfit und geschulte Performance. Die junge Nelia scheint den historischen Atem des 68er Geistes (im Sinne des Romantitels „Nachkommen“) aufgesaugt zu haben.

Kritik am Literaturbetrieb
Zwischen den Zeilen schwingt bei Marlene Streeruwitz immer wieder massive Kritik am Literaturbetrieb mit, wird die Gratwanderung zwi­schen Kunst und Kommerz, zwischen Bestseller und Kitsch angepran­gert, und all die selbstsüchtigen Kritiker und arrogant-herablassenden Verleger werden hier bizarr überzeichnet und der Lächerlichkeit preis­gegeben.
"Sie musste eine ebene Außenfläche herstellen, an der alles abgleiten können musste", heißt es über Nelia, die auch bei der Begegnung mit ihrem leiblichen Vater einiges einstecken muss. Jener Rüdiger Mar­tens, ein in Frankfurt lebender Professor für französische Literatur, den sie nie kennengelernt hat, dringt plötzlich wie ein Fremdkörper in ihr Leben ein und gibt ihr irgendwann zu verstehen, dass sie – wenn es nach ihm gegangen wäre – gar nicht auf die Welt gekommen wäre.
Da kann es angesichts der Häufungen an Nackenschlägen kaum ver­wundern, dass die junge Frau ihr eigenes Lebensgefühl als „totally fucked“ beschreibt. Das große Aggressionspotenzial, das sich dahin­ter verbirgt, findet aber nicht in einem rebellischen Veränderungswil­len, sondern in einer Form der postpubertären Dauerdepression ihr Ventil.

Doppelter Rollentausch
Ihren bitterbösen Zorn, den sezierend-kritischen Blick und ihren gera­dezu missionarischen Weltverbesserungseifer hat sich Marlene Stree­ruwitz über all die Jahre (und eben auch allen literarischen Trends trotzend) bewahrt. Und für den gleich doppelt vollzogenen künstleri­schen Rollentausch ist diese Gegen-den-Strom-Schwimmer-Mentalität ein absolutes Muss.
Den besonderen Clou an diesem Roman liefert nämlich die Realität als „Nachschlag“. In diesem Herbst erscheint nämlich tatsächlich auch noch ein Roman mit dem eingangs erwähnten Titel „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ – geschrieben von "Marlene Stree­ruwitz als Nelia Fehn" , so soll es auf dem Cover stehen. Eine geistreiche und keineswegs humorlose Realsatire hat uns da die öster­reichische Querdenkerin vorgelegt. Auf die Shortlist des Deutschen Bücherpreises werden es vermutlich beide Titel in diesem Jahr kaum schaffen.

Marlene Streeruwitz: Nachkommen. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014, 432 Seiten, 19,99 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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