Die Einhornverschwörung

"Clickbait" (dt. "Klick-Köder") ist eine Internet-Unsitte, die uns Gedankenkonsumenten die sonst so medienkompetenten, vernünftigen und souveränen Klamotten vom Leibe reißt und nackt — vor Neugier schlotternd — im finstersten Wald der erwartungsvollen Unwissenheit abstellt. Und "abgestellt" wird dabei meistens auch der Kopf.
Eine Satire und ein Lehrstück in Sachen Fake-News.

Ich habe mich als Jean Pütz verkleidet — dieser Archetypus des allwissenden und telegenen Erklärbären, der schon Kameras den Kopf getätschelt hat, bevor Harald Lesch auch nur geahnt hätte, dass er mal einen Asteroiden bekommen würde (# 35357).

Nun stehe ich mit falschem Schnauzer und weißem Kittel in einem Labor, in dem alles brodelt, dampft und funken wirft, ein selbstgebauter Fusions-Plasma-Toaster wirft jubelierend knallend die total verkohlten Brotscheiben in die Luft, sofort meldet die Stimme von Armin Laschet aus dem Off: "Mit der Kohle kann man noch was anfangen!"

Meine Assistentin überreicht mir schüchtern, doch feierlich, ein Kuscheltier in Einhornform.
Ich sage "Danke, meine Hübsche!", klemme es unter den Arm und lege los — ich bin on air, ich bin gut drauf:
"Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer [sicherlich sind die Pupillen Ihres geistigen Auges schon vor Interesse geweitet, da kann man ruhig Zuschauer statt Leser sagen], heute zeige ich Ihnen, wie man seine eigene Verschwörungstheorie bastelt."

Ein paar Schritte mache ich zur Seite, die Kamera schwenkt nach minimaler Verzögerung mit, eine Tafel erscheint im Bild. Armin Laschet rennt fix mit verbranntem Toast vorbei und quietscht "mein Schatz!"

Das Plüsch-Einhorn unterm Arm, mit nur einer Hand gestikulierend, beginne ich meinen Vortrag: "Verehrtes Publikum, ich habe hier mal Zutaten für unsere selbstgemachte Verschwörungstheorie aufgelistet. Wir brauchen:

  • einen offensichtlichen Trend,
  • eine fast unglaubliche und doch ein bisschen glaubwürdige Kausalität, in der ein kleiner, wahrer Anteil steckt und…
  • einen unbeteiligten Dritten, der das ganze steuern soll.

Wir haben hier stehen:
1x Einhorn.
Einhörner sieht man zur Zeit wirklich überall! Überall funkeln sie, werden eskortiert von Lichtspektren sämtlicher sichtbarer Farben, übergossen von rosa Nebelschwaden, gucken sie süß und bringen Magie in eine Welt, die nie entzauberter war als die Unsrige.

Und dann brauchen wir auch noch eine Macht dahinter, die dafür verantwortlich ist, dass überall die Einhörner auftauchen — und nehmen für unser Experiment den Herrn Luther, also:
1x Reformator/Bibelübersetzer.
Die Begründung lasse ich offen, das wird eine Überraschung…

Und jetzt diese beiden Zutaten zusammenrühren, rühren, rühren… Moment, ich hab da mal was vorbereitet—"

Ich verschwinde aus dem Bild, man hört ein Rumpeln, Wühlen und Piepen, danach noch ein Stolpern, ich komme mit einer Kette in der Hand wieder, das Einhorn unterm Arm ist verschwunden. Kurz geistesabwesend, fange ich mich wieder schnell.

"Das ist ein ganz feines Schmuckstück: eine buchstäbliche Argumentations-Kette, selbstgemacht und schön zusammen geknüpft… die stellt man folgendermaßen zusammen: Als Luther die Bücher des ersten Bundes übersetzte, nahm er nicht den hebräischen Text zur Hand, sondern die ihm zugänglichere Septuaginta, eine griechische Übersetzung des Urtextes. Und hier las er in Numeri 24,8 das Wort ‘Monokeros’ und konnte gar nicht anders, als ins Deutsche zu übersetzen: ‘Gott hat ihn aus Ägypten geführt; seine Freudigkeit ist wie eines Einhorns [sic!]. Er wird die Heiden, seine Verfolger, fressen und ihre Gebeine zermalmen und mit seinen Pfeilen zerschmettern’*. Dadurch hat spätestens Luther das Einhorn doch eindeutig als (von der christlich-abendländischen Kultur religiös verbürgte) Realität eingeführt.

Das ist knapp 500 Jahre her. Und echot plötzlich in der Gegenwart wieder auf: Seit 2014/2015 wurde das damalige Trendtier Eule langsam, unmerklich, infektiös unterwandernd und kompromisslos vom Einhorn verdrängt. Und pünktlich zum Lutherjahr 2017 wurde es zur dominaten Spezies des animalinspirierten Decó. Wir leben jetzt aktuell in der Hochphase des Neomonokerotismus (Ist ein Duden hier?!? Schnell, wir brauchen einen Duden! Es eilt!).

Cui bono?
Seit Jahren muss die evangelische Kirche in Deutschland schrumpfende Mitgliedszahlen und Sekularisierung fürchten und ertragen. Nun fahren sie die ganz starken Geschütze auf: Luthers volle Einhornpower aus allen Rohren! Damit ist sein Erbe — in diesen popkulturellen Rahmen gesetzt — gegenwärtiger denn je.

Also zusammenfassend die ganze, frisch angerichtete Verschwörungstheorie in einem Satz:

Die Einhörner werden von der evangelischen Kirche inflationär in die Welt gepresst, um die Erinnerung an Luther wachzuhalten.

Oder als Merksatz:
Ist ein Einhorn auf die Packung gedruckt,
Der Luther aus dessen Aug' raus guckt.

Das war doch ein schönes Projekt! Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Viel Spaß beim nachbasteln und auf wiedersehen!"

Kurzer Moment der Stille.

Ich reiße mein Klebebärtchen ab, es hinterlässt gerötete Haut unter der Nase, lege den Kittel ab… ich trete näher und flüstere mit leicht zur Seite gedrehtem Kopf: "Wissen Sie, was mir wirklich Angst macht? Dass es vielleicht in 50 Jahren Leute gibt, die das glauben könnten. Dafür… möchte ich mich schon heute… entschuldigen!"

Und dann hält meine Assistentin das Kuscheltiereinhorn in die Kamera, das weiche Horn dötscht an die Linse und wir ulken gemeinsam: "kutschi-gutschi-gutschi-guuuu"

Abblende.

TK

*Das Einhorn als Übersetzungsmöglichkeit des hebräischen Wortes für Wildstier/Wisent wurde tatsächlich noch bis zur 1914er Revision beibehalten, erst '64 verschwand das Fabeltier aus den Versen der Lutherbibel.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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