Interview zum "Tag der offenen Gesellschaft": Hintergründe der Weseler Flüchtlingsarbeit

Diese gelungene Fotomontage stellt uns Emanuelle Pieck aus Hamminkeln zur Verfügung. | Foto: EmPi
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Warum denkt man bei Fragen rund um eine "Offene Gesellschaft" eigentlich sofort an Flüchtlinge? Nicht an bestimmte, ans Flüchtlingsthema an sich! Ist das Themenfeld nicht um ein Vielfaches facettenreicher? Hat "Offenheit" nicht mit so viel mehr zu tun, als mit der Einstellung zu Ausländern, die aus ihrer Heimat nach Deutschland flüchten?

Wie auch immer: die Flüchtlingsfrage bewegt die Republik. Bundeskanzlerin Angela Merkel fuhr bei der Bundestagswahl im September 2017 das schlechteste Ergebnis ihrer Karriere ein. Weil sie - "wir schaffen das!" - den Flüchtlingen die Staatspforte öffnete. Wasser auf die Mühlen der Alternative für Deutschland (AfD), die sich 13 Prozent der Wählerstimmen sicherte.

Offen zu sein bedeutet auch: Ungewohntes mal probieren, "wat den Buur niet kennt". Die Musik seiner Kinder anhören. Den Nachbarn zu grüßen, obwohl der immer in der Mittagspause den Rasen mäht. Oder sich mit Fremden an einen Tisch setzen, die eine dunklere Haut haben. Diese vom Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter gestützte Kampagne hatte im Juni 2017 Premiere! Menschen mit grundverschiedenen Vorgeschichten holten die Tische raus und tauschten sich aus. Prominente wie die Schauspielerin Katja Riemann unterstützen die Aktion. 

Einer der ganz einfachen, wichtigen Sätze aus dem Sport: "Alle müssen mitmachen, damit uns die ganze Scheiße nicht um die Ohren fliegt!" Das versuchte auch die Weseler Initiative "Vesalia hospitalis - Für ein weltoffenes Wesel". Eine Gruppierung bereitwilliger Ehrenämtler, die den Asylsuchenden in der Hansestadt helfen wollte.
Was ist aus der Facebook-basierten Hilfe geworden? Hat sich die offene Weseler Gesellschaft im Sand des Vergessens wund gelaufen? Die Redaktion hat nachgehakt. Unsere Fragen beantwortete Karl-Heinz Hildebrandt, Sprecher der Gruppe.

Das Interview!

Redaktion: Gibt's eigentlich noch Flüchtlingsbetreuung in Wesel (wie viele aktive Helfer)?
Hildebrandt: Seitens der Stadt Wesel gab es bis März 2018 eine Sozialbearbeiterin für die gesamte Betreuung. Seit April sind es zwei.
Auch hat die Stadt Wesel keine ehrenamtliche Organisation mit diesen Aufgaben betraut.
Es gibt allerdings viele private Helfer, die um ihre Arbeit kein großes Aufsehen machen, sondern einfach helfen. So auch Mitglieder der Facebookgruppe.

Redaktion: Wie viele Asylsuchende wurden in Wesel seit Herbst 2015 betreut und wie ist die aktuelle Situation? 
Hildebrandt: Die letzten offiziellen Zahlen sind vom 21. Juni und vom 16. November 2017.
Am 21. Juni 2017 befanden sich 668 Flüchtlinge in Wesel, Die größte Gruppe waren Menschen aus den Gebieten der ehemaligen UdSSR (ca. 140 Personen).

Ich zitiere mal aus dem Bericht des Sozialausschuss (16.11. 2017):
„Neben rd. 560 Flüchtlingen im Leistungsbezug erfolgt zusätzlich auch eine Betreuung der mittlerweile anerkannten und in den Leistungsbezug des Jobcenters gewechselten Flüchtlinge in nicht unerheblicher Anzahl. Zahlen können nicht genannt werden, da hier keine entsprechende Statistik geführt wird“
Jeder mag sich die Qualität der Betreuung ausrechnen, die jahrelang eine, nun zwei Sozialarbeiterinnen bei mehr als 600 Flüchtlingen zu leisten vermögen.

Redaktion: Wie steht's um die Integration in den Arbeitsmarkt vor Ort?
Hildebrandt: Hier habe ich noch keine offiziellen Zahlen. Ich hoffe, bei der nächsten Sitzung des Sozialausschusses am 21. Juni mehr zu erfahren.

Redaktion: Was ist nach Ihrer Beurteilung die größte Hürde bei der Migrantenbetreuung?
Hildebrandt: Ich war selbst hauptberuflich als Betreuer und als Leiter einer Flüchtlingsunterkunft in einem Nachbarkreis tätig und habe in dieser Zeit feststellen müssen, dass viele Flüchtlinge die teilweise sehr nachsichtige Art vieler Betreuer nicht verstanden.
Zu große Nachsichtigkeit wird als Schwäche ausgelegt und entsprechend ausgenutzt.
Das ist eine völlig natürliche Reaktion. Auch die Einheimischen sind davor ja nicht gefeit.
Problematisch wird es aber dann wenn es darum geht einen gemeinsamen Konsens zu finden und Respekt voreinander zu haben.

Redaktion: Gibt es eine besonders schöne oder auch eine sehr negative Geschichte aus den zweieinhalb Jahren der Betreuung?
Hildebrandt: Ja, gibt es. Sowohl als auch. Aber ich werde sie nicht näher beschreiben. Sie sind immer mit persönlichen Schicksalen verbunden; ich denke nicht, dass es richtig wäre, darüber zu sprechen, ohne dass die betroffenen Menschen selbst zu Wort kommen.

Redaktion: Glauben Sie, Weseler haben mit Flüchtlingen (oder dem Flüchtlingsthema) weniger Probleme als die Menschen in anderen Regionen?
Hildebrandt: Nein. Unabhängig davon, wie real diese Probleme sind.
Ein Blick in die lokalen Medien reicht um zu wissen, dass Wesel kein Paradies ist.

Redaktion: Was ist bei Ihnen persönlich hängen geblieben in Ihrer aktiven Zeit in der Betreuergruppe?
Hildebrandt: Meine aktive Zeit beschränkte sich zur Hochzeit auf die Mit-Administration der Gruppe und einzelne bürokratische Hilfestellungen, da ich selbst außerhalb Wesels in einer Notunterkunft tätig war.
Bis heute fasziniert mich, dass innerhalb von 24 Stunden, nachdem Hilmar Schulz die Gruppe gründete, 500 Weseler sich zur Hilfe bereit erklärten, dass es 48 Stunden später über 1500 waren. Heute sind es noch immer rund 1300 und viele davon sind ganz im Stillen privat engagiert.

Redaktion: Bitte formulieren Sie doch mal, was für Sie eine „offene Gesellschaft“ bieten muss!
Hildebrandt: Ich finde den Begriff der offenen Gesellschaft in diesem Zusammenhang deplatziert.Er suggeriert, dass die Offenheit eine einseitige Bringschuld unserer Gesellschaft wäre. Dem aber ist nicht so.
Ich bevorzuge den Begriff einer sozialen und liberalen Gesellschaft. Größtmögliche Freiheit des Einzelnen bei größtmöglicher (sozialer) Sicherheit Aller. Das gilt für alle Menschen, die hier leben wollen oder müssen.
Wir haben die Verpflichtung, den Flüchtlingen die gleichwertige Teilhabe an dieser Gesellschaft zu ermöglichen. Die Flüchtlinge haben die Verpflichtung diese Gesellschaft zu akzeptieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Teil zum Erhalt beizutragen.

Autor:

Dirk Bohlen aus Hamminkeln

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