Zahira

Foto: CARE/Laura Sheahan
5Bilder

Die anderen Kinder spielen da drüben. Ausgelassen. Sie rufen einander etwas zu. Die Kleine versteht die Worte nicht, die Kinder sind zu weit weg. Ab und zu schaut eines der Kinder herüber. Nicht lange, nur eine Sekunde, vielleicht zwei. Doch wenn einer seiner Freunde etwas sagt, schaut es sofort wieder dorthin.
Spielen ist lustiger als schauen, das weiß die Kleine. Ich darf immer nur schauen, denkt sie. Wie lange halte ich das aus?

Abends sitzt sie bei ihrer Mutter am Esstisch. Es ist zugleich der Wohnzimmertisch. Und der Tisch, an dem sie ab und zu malt. Ihre Bilder zeigen keine schönen Dinge. Große, schwere Maschinen auf Rädern, mit Kanonen darauf. Sie malt viel in Rot. Den Figuren, die auf dem Boden liegen, fügt sie rote Kringel hinzu. Und Schwarz. Dinge, die durch die Luft fliegen, sind oft schwarz. Und sie tun den Menschen weh. Das weiß die Kleine.
Sie hat es erlebt. Es ist auf den Bildern zu sehen. Ihr Bruder ist dort geblieben. Er konnte nicht mehr weg.

Am nächsten Morgen steht sie wieder vor dem Haus. Heute sind die Kinder nicht hier. Nur ein alter Mann geht vorbei. Er führt einen Hund an der Leine. Die Kleine spürt, dass der Mann sie ansieht, obwohl er seinen Hut tief ins Gesicht gedrückt hat. Der Hund zieht an der Leine und knurrt sie an. Sie hat Angst und ist froh, als der Mann weitergeht. Mutter öffnet die Tür und ruft sie. Die Kleine geht lieber hinein, dort ist es sicher.
Ist es das? Seit vier Monaten leben sie nun schon hier.

Der Brief von ihrem Vater

Am anderen Tag besucht ein Mann die Kleine und ihre Mutter. Er lächelt nur kurz, dann schaut er ernst. Er legt viele Blätter Papier auf den Tisch, dabei stößt er mit seinem Schienbein gegen das Metallbett, das direkt neben dem Tisch steht. Der Mann ärgert sich darüber, das sieht die Kleine ihm an. Sie sieht auch, dass ihre Mutter nicht weiß, was sie mit den Papieren tun soll. Der Mann redet noch ein paar Minuten mit ihrer Mutter. Dabei schaut er manchmal aus dem Fenster direkt neben ihm. Als er wenig später geht, weint ihre Mutter und die Kleine streichelt sie am Unterarm. Sei nicht traurig Mama, wir schaffen das schon.

Der Mann hat auch einen Brief da gelassen. Er ist von ihrem Vater. Er liegt in einem Krankenhaus in einer großen Stadt, weit weg von hier. Die Kleine vermisst ihren Vater, aber er kann nicht bei ihnen sein, denn er ist sehr krank. Ihre Mutter sagt, Vater müsse noch einige Wochen dort bleiben. Sie könnten froh sein, dass er überhaupt noch lebe. Die bösen Menschen in ihrer Heimat hätten gewollt, dass er tot ist.

Sie will die neue Sprache lernen

Als die Kleine ein paar Tage später wieder draußen steht und auf den Spielplatz schaut, läuft ein Junge auf sie zu. Er kommt bis auf ein paar Meter heran, dann ruft er ihr etwas zu. Sie versteht ihn nicht. Aber sie prägt sich die Worte ein, die der Junge gerufen hat. Er ruft sie zweimal. Dann läuft er wieder zu den anderen Kindern zurück.

Bald besucht uns eine Frau, sie unterrichtet uns, sagt ihre Mutter, als die Kleine ihr von dem Jungen erzählt. Nächste Woche ist es soweit. Dann lernen wir diese schwierige Sprache! Ich freue mich auf die neuen Wörter. Wenn ich viele davon kenne, kann ich mit den Kindern spielen. Die Kleine lacht ihre Mutter an. Ihre Mutter hat wieder Tränen in den Augen.

"Verstehst Du mich nicht?"

Eine Woche später spielt die Kleine auf der Wiese vor dem Haus. Sie schaut es sich an. Hellgraue Blechwände mit einfachen Fenstern. Das Haus ist nicht schön, aber es ist besser als das Haus, das sie in ihrer Heimat hatten.

„Wie heißt Du?“, fragt der Junge, der plötzlich hinter ihr steht. Es ist der Junge, der schon mal gerufen hatte. Er hat einen Freund mitgebracht. Sie hat die beiden gar nicht kommen gehört. Jetzt ist sie ganz aufgeregt.

„Verstehst Du mich nicht? Wie heißt Du?“, fragt der Junge noch einmal.
„Ich heißt Zahira!“, sagt sie.
Das bedeutet hell glänzend oder „die Kleine“.

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(verfasst am 18. März 2015)
Hinweis: Das Startfoto des Beitrags von Laura Sheahan (CARE) zeigt nicht das Mädchen, von dem oben die Rede ist. Der Text ist rein fiktiv. Vielen Dank auf diesem Wege an Laura Sheahan und CARE für die freundliche Überlassung des Fotos.

Autor:

Dirk Bohlen aus Hamminkeln

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