Kurioses auf dem MDR-Tower in Leipzig.

In 120 Meter Höhe steht Viktor auf dem MDR-Tower | Foto: Marita Gerwin
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"Cottbus, Cottbus, bitte melden. Hörst Du mich, Wilhelm? Ich bins, der Viktor aus Leipzig. Die UKW-Frequenz ist auch nicht mehr die, die sie mal war. Jetzt hab ich schon 3 Euro für den Aufzug bezahlt, um einmal in meinem Leben auf den Weisheitszahn von Leipzig zu jückeln und nun verstehe ich Dich immer noch nicht. Warte mal. Ich geh ein Stück zu Seite! Die Leitung ist hundsmiserabel. Das gibts doch nicht. Ist es jetzt besser? Kannst Du mich denn immer noch nicht hören? Ich halte die Antenne doch schon so weit raus, wie eben möglich. Weiter kann ich mich nicht übers Geländer beugen, dann wird’s echt brenzlig...“

Oh, Gott, was passiert denn da? Der wird doch wohl nicht...

Ich fass es nicht. Was ich hier sehe, glaub ich nicht: Wie ein Vertreter aus einer längst vergangenen Zeit steht er da, der ältere Herr, leicht nach vorn gebeugt, in seinem schicken, grauen, knitterfreien Anzug. In 120 Metern Höhe, auf der Aussichtsplattform des MDR-Tower in Leipzig entdecke ich ihn. In einer ruhigen Ecke des UNI-Riesen, dem Wahrzeichen der modernen, aufstrebenden Stadt versucht er über die UKW-Frequenzen per Funk Kontakt zu seinem Freund Wilhelm in Cottbus aufzunehmen.

Auf seinem Kopf trägt er, keck ins Gesicht gezogen, eine braune Baskenmütze. Um den Hals hat er sich galant einen handgestrickten Wollschal gebunden. Seine fesche Sonnenbrille aus den 60-ger-Jahren schützt seine Augen vor dem gleißenden Licht. Im „Retro-Stil“, würde die Jugendlichen heute sagen! Echt pfiffig!

Viktor ist sein Name. Er ist 78 Jahre alt und Hobby-Funker aus Leidenschaft. Seine linke Hand umfasst ein Sprechfunkgerät. Darin eingeklinkt ist ein spiralförmiges Antennenkabel. In der Rechten hält er einen hölzernen Rundstab. In Längsrichtung daran befestigt hat er mit Flügelschrauben und –Muttern eine ca. 1 Meter lange Metall-Schiene, an der in drei Etagen in der Waagerechten Regenschirmstangen montiert sind.

Dieses „technische Ungetüm“ erinnert an unsere Hausantenne auf dem Dach, als wir noch keine Satellitenschüssel kannten. Bunte Wäscheklammern zurren das Kabelgewirr am Gestänge fest. Eine kuriose Konstruktion. Aber sie scheint zu funktionieren. Viktor verrät uns augenzwinkernd, dass er die Einzelteile im Rucksack hinauf transportiert und erst hier oben zusammenbaut hat. Stück für Stück. Ein Blick in seinen Werkzeugkoffer signalisiert „Alles am Mann. Alles an Bord“.

Mit seiner sperrigen, weit ausladenden Antenne, Marke „Eigenbau“ beugt er sich nach vorn über die Brüstung. Soweit sein Arm reicht. Mir stockt der Atem.

„Hoffentlich kann er das Ding halten. Wenn jetzt ein Windstoß kommt, dann war es das.“ Ich mag es nicht zu Ende denken. Neugierig beuge ich mich ebenfalls über die Absperrung und entdecke, dass zwei Meter darunter ein eingerüstetes Vordach ist. „Wenn es wirklich nicht gut geht, landet das Teilchen dort und nicht im hohen Bogen 120 Meter tiefer auf dem Vorplatz. Aber keine Angst, das wird nicht passieren. „Ich habe alles im Griff.“, versichert Viktor lächelnd.

„Sein Wort in Gottes Ohr“, schießt es mir durch den Kopf. Sagen tue ichs nicht.

Am Absperrgitter zum Sendemasten des MDR – Fernsehen baumelt sein schwarzer, prall gefüllter Rucksack, mit all seinen Utensilien, die er zum „Zusammenbauen und Reparieren“ seiner Funkanlage benötigt. Eine rote und eine blaue Wäscheklammer klemmen am Schul-tergurt des Rucksacks, quasi in Reserve. Es scheint, als benötige er sie für irgendetwas.

Eine Weile beobachte ich ihn schon. Höre ihn mit Händen und Füßen reden. „Ich bin auf dem MDR-Tower in Leipzig. Der Blick über die Dächer der Stadt ist faszinierend. 1972 war der Uni-Riese das höchste Gebäude Deutschlands. Er ist nach den Entwürfen des Architekten Hermann Henselmann entstanden. Ich fühle mich ich in schwindelerregender Höhe frei wie ein Vogel, lasse mir den Wind um die Nase wehen. Es ist sooo schön. Hier hast Du einen atemberaubenden Weitblick über die Innenstadt. Unter mir liegt winzig klein das Gewandhaus und der hypermoderne Uni-Campus. Davor flitzen die Autos und Straßenbahnen hin und her. Ein Verkehr ist das heutzutage. Alles erinnert mich an meine Märklin-Eisenbahn-Landschaft. Wie Gummibärchen sehen die Menschen da unten aus. Klitzeklein. Wo die wohl alle hin wollen? Hier atmest Du grenzenlose Freiheit. Spürst den frischen Wind im Gesicht. Hier kannst Du erahnen, aus welcher Perspektive die Vögel unsere schöne Welt betrachten. Musst unbedingt mal kommen, um dies in vollen Zügen zu genießen. Cottbus ist ja gar nicht so weit von Leipzig entfernt. Also, worauf wartest Du noch? Schnür Dein Ränzel und mach hinne.“

Man hat das Gefühl, dass Viktors Begeisterung keinen Raum für eine Antwort seines Freundes Wilhelm aus Cottbus lässt. Ohne Punkt und Komma redet er auf ihn ein. Überhört die Worte, die aus seinem Sprechfunkgerät ertönen. Vielleicht will er auch gar nicht zuhören, sondern sich nur selbst mitteilen? Wer weiß?

Plötzlich ziehen Wolken auf. In Windeseile droht es mit Regen. Ruck-Zuck schraubt und montiert Viktor seine Bausatz-Konstruktion wieder auseinander. Legt die Einzelteile fein säuberlich in einen Kasten, sortiert seine Regenschirm-Stangen, Kabel, Schrauben, Muttern und Wäscheklammern perfekt an Ort und Stelle, verschließt seinen Rucksack und verschwindet im Getümmel. Auch ich versuche so schnell wie möglich wieder nach unten zu kommen. Beide erwischen wir den nächsten Aufzug. Dem Himmel sei Dank. Ein Gewitter an dieser exponierten Stelle möchten wir beide lieber nicht erleben. In der rasanten Fahrt im Aufzug treffen sich unsere Blicke noch einmal. Viktor scheint glücklich zu sein mit sich und der Welt. Er zwinkert mir verschmitzt lächelnd ein Auge zu. Ich verstehe auch ohne Worte, diese versteckte Botschaft. Wir verabschieden uns, bevor jeder wieder seiner Wege geht. Ich bin dankbar für diese wunderbare, unverhoffte Begegnung, die mich für einen Moment in eine längst vergangen Zeit zurückgeführt hat. Ich habe das Gefühl, eine kleine Atempause eingelegt zu haben. Dank Viktor. Ich werde diesen sympatischen, kreative Kopf so schnell nicht wieder vergessen.

Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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