Die Dorfkneipe oder mein Facebook der 80er. Eine Kneipenhommage von Peter Hesselmann

5Bilder

Das was heutzutage allgemein unter den Begriff Kneipe zusammengeführt wird, hat mit der nonchalanten Tristesse und melancholischen Ausstattung einer echten, ursprünglichen Kneipe, so wie ich sie kannte, oft nix mehr zu tun. Heute sind es meist pompös aufgemachte Cocktailtempel, in denen sich der Barkeeper beim mixen nen Tennisarm schüttelt, laute „Bum-Bum Musik“ dir die Trommelfelle zerfleddert, Wasser schon mal 5 € kostet. Das normale Pils mit Rosenkohlröschen, Zucciniecken oder nem Zuckerrand serviert wird, um Kreativität zu demonstrieren. Schnitzel und Frikadellen maximal noch als Personalessen Berechtigung finden und die Wirte von den Butzen (Läden) Tag täglich um den Schikki Mikki Orden kämpfen, in dem sie noch hipper und noch stylischer und eben noch cooler daher kommen, wollen.
Kneipe definiere ich anders. Kneipe war runterkommen, Kneipe war zu Hause, Kneipe war Treffpunkt. Kneipe war Kegeln, Knobeln, Kartenspielen. Kneipe war los lassen vom Alltag, Kneipe war Kommunikation. Kneipe war das heimische Wohnzimmer, nur eben woanders. Kneipe war unser Facebook.

Ich hab Wasser inne Klüsen als ich vor der, für immer geschlossenen, Eingangstür meines „alten Wohnzimmers“ stehe. Jupp, es gibt wenige Momente in denen ein Sauerländer sentimental wird. Einer ist sicherlich der, wenn der Tresen schließt, der Sauerländer abba noch´n Durst hat und ein weiterer ist eben dieser hier. Ich stehe vor lang vergangen Zeiten. Zeiten in denen es meine Dorfkneipe noch gab. Es sind viele Emotionen, Erinnerungen und Erlebnisse die ich mit der Kneipe verbinde. Immerhin saß ich dort fast 20 Jahre mindestens 3x pro Woche an der Theke. Ungelogen, meine Schuhe hatten an den Absätzen eine Kerbe. An der Stelle vom Schuhabsatz, der auf der unteren, stabilisierenden Querstange des Hockers abgesetzt wird.

Meine Kneipe bestach durch schlichte Eleganz, gepaart mit Sauerländer Holz, bis hoch zur Deckenvertäfelung. Spartanisch, funktionell war sie. Die Theke umrundete den Zapfhahn, den Wirkungskreis des Wirtes. Etwa 15 Hocker aus massivem Eichenholz und ner Polsterung, die nur Makulatur war, gaben den Stammgästen ihren Platz und als Stammgast hattest du deinen Platz so sicher, wie deinen Sessel zu Hause im Wohnzimmer. Alles hatte den düsteren, rustikalen Sauerländer Charme der späten 60er. Buntglasfenster sorgten für nicht allzuviel Tageslicht. Nikotin hieß die Patina an der ehemals weißen Rauhfaser. Auf dem massiven Eichenholztresen, so manches Brandloch von Zigaretten, die bei hektischen Knobelrunden oder beim derben Skatkloppen, vergessen worden waren. Blank und glänzend waren immer der Zapfhahn und die Comarganarbeitsfläche. Der Boden? Pflegeleichte Fliesen in braun und ocker. Die Wand in der Stammtischecke, tapeziert mit grüner Filztapete war voll mit Fotos von Ausflügen in die regionalen Brauereien, Kegelmeisterschaften und dem letzten Sparfest der Stammgäste. Tischschmuck? Ja, sicher dat. Auf den Tischen, Bierdeckelstapel und Aschenbecher, die auf quadratischen Platzdeckchen, schlichten Papierservietten, arrangiert waren. Zu hohen Kneipenfeiertagen, wie Kegel-und Knobelturnieren, zur Sparfachauszahlung, internen Skatmeisterschaften oder der alljährlichen Stammgastparty, gab´s immer frische Wald und Wiesenblumen.
Der grüne Sparkasten an der Wand mit 42 Fächern, hatte Aussagekraft. Kneipenkenner wussten sofort, dass sie in der Kneipe gut aufgehoben waren. 42 belegte Fächer bedeutete mindestens 42 Stammgäste. Ein Sparfach wurde nicht vergeben, es wurde regelrecht vererbt. Du gehörtest nur dann wirklich dazu, wenn du ein Sparfach hattest. Es mag heute lächerlich klingen, aber als ich meins bekam, war dat´n Gefühl als hätte mir VELTINS auf Grund meines verköstigen Jahresvolumens an lekker Sauerländer Pilsken, den goldenen Hopfen, am roten Bande, mit Wasserdiamant, an versilberter Gerstenähre, auf kupfernen Malzkörnern verliehen.
Dann gab es den obligatorischen „Daddelkasten“ (mechanischer Geldspielautomat), 20 Pfennig pro Spiel und natürlich durfte der „Schlagertempel“ (Musikbox mit echten Singleplatten aus Vinyl) nicht fehlen. 2 Lieder für 50 Pfennig. Voll gepackt mit Hits aus den 60er und 70ern. „Die kleine Kneipe“, von Pitters Alexander, „Hohe Tannen“ von Ronny und auch „Ich war noch niemals in New York“, von uns aller Udo, wurden regelmäßig gespielt. „Was ich noch zu sagen hätte …“ von Reinhard Mey war jeden Abend der Kneipenputzer. Mehr gab´s nicht. Es gab nicht mehr, weil wir nicht mehr brauchten und auch gar nicht mehr wollten.

Wenn die Bude voll war, das war sie fast an jedem Tag, zwischen 16 und 20.00 Uhr und auch die Zigarrenraucher nicht fehlten, bekam man schnell den Eindruck, als würde man mitten in einem Kohlenmeiler sitzen. Gäste machten sich mit nem lauten Furz bemerkbar (gängige Sauerländer Hupe), wenn der Wirt, auf Grund der schlechten Sicht, den akuten Bedarf nicht erkannt hatte. Niemand, wirklich niemand regte sich darüber auf, dass in der Kneipe geraucht wurde. Und niemand, wirklich niemand ging nicht in die Kneipe, weil dort geraucht wurde. Kneipe, Pils und Rauchen waren und sind aus meiner Sicht heute noch untrennbar.

Das Pils kostete zu der Zeit … getz das folgende auffe Zunge zergehen lassen, wie den Geschmack vom würzigen Sauerländer Pilsken, wonnich … kostete Ende der 80er, 1 Mark und 10 Pfennig, also 55 Cent für´n 0,2l Finkennäpfchen. Da lohnte es sich auch ma ein, zwei, drei, 12 oder auch mehr zu trinken und wir machten anständig Gebrauch davon. Als der Wirt auf Grund der Bierpreiserhöhung, durch die Brauerei, den Preis um 20 Pfennig hochsetzten musste, kam es zu tumultartigen Ausschreitungen, wie auffem Sauerländer Schützkenfest an der Biertheke, nach dem Schützkenumzug bei 35 Grad im Schatten, wenn der Schankwirt ankündigt „Kaltes Bier geht gleich alle ...“. Mein Wirt lies den Vertreter von der Brauerei antanzen. Ergebnis, wir bekamen für das nächste Jahr jeweils100l Freibier für das Sommergrillen und die Stammgastfete. Als wir ihn immer noch nicht gehen lassen wollten, legte er noch´n 50l Fässken drauf, dass wir mit ihm, noch am gleichen Abend, pfandreif (leer) tranken.

Hausgemachte, in den Achselhöhlen der Wirtin geformte, Frikadellkes gab´s für ne Mark, Schnitzel oder Kotelett für eins fuffich. Das „Zeuchs“, gab´s auf dem typischen Sauerländer Teller, nämmich auffe Hand und lag dann weder in einem Bett aus mediterranen Kräuterschaum, noch in einem leicht lockeren Soßenarrangement aus chilenischen Tomaten, cremig links geschlagenen, tibetanischen Eiern und nepalesischem Olivenöl, aus längst vergessenen Bergregionen. Nää, entweder ohne alles oder du bekamst ein Päckchen Ketschup, alternativ Mayo oder Senf dazu feddich. Die Reibeplätzchen konntest du mit Apfelmus oder Rübenkraut haben. Und kein Sternekoch, egal wer, konnte besser mit der Gusseisernen umgehen als die Wirtin. Was aus diesen Pfannen kam, war weder von Muttern noch von Omma zu toppen. Reibeplätzkes mit Appelmus oder Rübenkraut, wurden pauschal abgerechnet. Weil wer wusste nach 12 Pilsken noch, ob er getz 15 oder 38 von den knusprig, fettigen gegessen hatte und so unverschämt war, dem Thekennachbarn noch die letzten zu klauen, während der fasziniert dabei zusah, wie der Wirt dieses Kunstwerk von einem gezapften Pilsken herstellte.
Mein Wirt war der Meister am Zapfhahn. Nur er war in der Lage, aus profanem Bier, flüssiges Kehlengold zu machen. Perfekt temperiert, mit standhafter Blume, tropfenfreier Bierrosette und immer das Etikett zum Gast servierte er das Sauerländer Lebenselixier. Nichts, auch nicht der kleinste Tropfen rann am Glas herunter. Selbst wenn der Deckel rund gesoffen war (also der letzte Strich am ersten killerte) war er so trocken, wie ne frische Babywindel. Der Wirt zapfte nicht, der zauberte wenn es um so´n lekker Pilsken ging und dabei brachte ihn auch nix, aus der dafür nötigen Ruhe. Bestellen? Wer bestellte, war kein Stammgast. Der Wirt wusste wer was, was wann wer und er wusste auch, wann wer genuch von dem was hatte. Und wenn du wirklich mal etwas anderes wolltest, entschied er darüber, ob du es auch bekamst. Die Cocktails in der Kneipe, waren Cola Korn und Ende.

Der Wirt und seine Frau waren keine Wirte. Nää, für uns Stammgäste waren sie so was wie Omma Esther und Oppa Samuel Walton aus der Serie „Die Waltons“. Er war nicht nur Wirt, er war Therapeut, Ratgeber, Vermittler, Zuhörer und er war Freund. Es gab Gäste, die das Wirteehepaar im Urlaub besuchten. Es gab Stammgäste, die mit ihnen zusammen in den Urlaub fuhren.
Unser Wirt brachte uns zum Flughafen, wenn wir in die Welt flogen. Er holte uns auch wieder ab, fuhr uns direkt in die Kneipe, wo die Wirtin ein opulentes Essen vorbereitet hatte, ohne das dafür auch nur eine Mark berechnet wurde. Wer als Stammgast unseren Wirt am Schützkenfestmontach an der Bierbude unter der Lerche traf, dem war es unter Androhung von 14 Tagen Kneipenverbot untersagt, eine Runde zu bestellen. Egal wie lange, egal wie viel, wir waren seine Gäste und Basta!
Du warst noch nicht drin in der Kneipe, kam schon der erste Spruch, weil der Wirt erkannte seine Schwei … ääh Gäste schon am Gang. „Wer kommt bei Sonne, Regen und Gewitter, dat is der Pitter der brauch seine täglichen Liter ...“, war einer von vielen, den er für mich hatte.
Für „Nicht Kneipengänger“ mag es dämlich klingen, die regelmäßigen Dorfkneipengänger werden jedoch wissend nicken, Kneipe, Wirt und Stammgäste waren eine Einheit mit Familienstruktur. Ich möchte nicht wissen, wie viele Ehekrisen gar nicht erst statt gefunden haben, weil er zweimal pro Woche auf ein, zwei ... fünfzehn Glas lekker knacke, kaltes Pilsken inne Kneipe ging und sich stabilisierte, anstatt zu Hause wegen Stress auffe Arbeit randalierte. Der prozentuale Anteil von Ehekrisen die erst durch regelmäßige, oft ausufernde, Kneipenbesuche ausgelöst wurden, is bei uns auffem Dörpe (Dorf) nie erfasst worden.
Oft ging das Telefon und die holde Ehefrau lies ausrichten, dass die Schwiegereltern getz wieder wech waren und das Abendessen auf dem Tisch stand oder „Sach meinem Lappes, dat Suppe im Ofen steht. Ich geh getz auffen Pröhleken (Schwätzchen) zu Erwin´s Katrin rübba und sach´se meinem, dat er sich noch´n Kotelett oder ne Frikadelle bei dich essen soll und dat ich vor zehne nich widda auffem Hoff bin, wonnich. Sach´se dem, woll, Tüsken dann. Ach so, kann´s meinem noch sagen, wenn´er Schabau (Schnaps) säuft, soll er auffen Schäselon (Sofa) knacken, weil der schnarcht ja, wie unser oller Deutz im Standgas, wenn´er einem im Schluffen hat. Mein Lappes getz, nich unser Trecker, wonnich. So und nu Tüsken getz, woll.“

Die Kneipe war das Wohnzimmer für sämtliche Berufsschichten. Schick machen war für einen Kneipenbesuch auch nicht nötig. Wir soffen alle im jeweiligen Berufsornat (Berufskleidung). Handwerker, Schichtarbeiter, Büroangestellte, Außendienstler. Selbstständige Unternehmer und Kleinunternehmer aus dem Dorf. Ortsvorsteher, Pastor, Doktor, ein Polizeibeamter und der Filialleiter von der Spasskasse, sie waren alle da. Somit entfielen für uns die regulären Öffnungszeiten vom Amt, vom Doktor und von der Kasse. Wir konnten alles in der Kneipe, an der Theke regeln. Der Gang zur Gemeinde zwecks Verlängerung des Angelscheins oder Personalausweises u.a. entfiel.
Wenn der Pastor da war, tranken wir andächtig, mit nobel abgespreiztem, kleinen Finger und hatten irgendwie das Gefühl, dass er uns die Absolution für unser Tun gab und wir somit die Rechtfertigung für unsere Frauen hatten, wenn wir wieder mal, wie angekettet, an der Theke fest hingen.
Die Sprechstunden vom Doktor an der Theke waren Kult. Kleinere Behandlungen, machte er auf der Kegelbahn. Da wurde der Rücken wieder eingerenkt, eingewachsene Zehennägel und kleinere Schnittwunden behandelt, Hämorriden oder auch ein Furunkel aufgeschnitten. Anästhesie, Beruhigung, Desinfizierung und Zahlungsmittel, war´n klarer, kalter Kartoffelschnaps. Heute wäre das ne Schlagzeile in der größten deutschen Boulevardzeitung, mit der Folge, dass man dem Doktor die Approbation aberkennen würde. Damals … war es eben so. Keiner regte sich drüber auf. Im Gegenteil. An der Theke wurde ernsthaft darüber diskutiert, ob der Doktor nicht ne lukrative Dependance auf der Kegelbahn aufmachen sollte. Anfangs sah man nur Vorteile und die Begeisterung war riesengroß. Wo gab es schon ein Wartezimmer in dem frisches Fassbier ausgeschenkt wurde und wo man mit den Kumpels einen ausknobeln konnte. Als jedoch das Thema aufkam, wie Untersuchungen ablaufen sollten, bei denen der Doktor den Gummihandschuh schnappen lies und den Mittelfinger, für die alljährliche Darmspiegelung, dick mit Vaseline einschmierte (dafür das olle Frittenfett zu verwenden, wurde einstimmig abgelehnt) wurden die Befürworter leiser. Keiner mochte sich vorstellen, dat beim Kegelabend das Schnitzel auf dem OP Tisch, also dem Kegeltisch, exakt da lag, wo der Doktor … Man einigte sich abschließend darauf, dass Furunkel und Hämorriden aufschneiden, schon nah an die Maximal Akzeptanz kam.
Der Polizist gab uns regelmäßig die Sicherheit unter Aufsicht und mit Genehmigung der Obrigkeit zu saufen und seine Tipps, das Auto mal stehen zu lassen, führten dazu, dass so mancher von uns, die nächtliche Alkoholkontrolle, aus der Seitenscheibe des Taxis aufmerksam aber vor allem erleichtert beobachten konnte. Ich hör´se bis hier schreien. Richtig, es war damals schon unverantwortlich angetrunken zu fahren. Wir taten es trotzdem. Wir taten es, weil es „normal“ war. Wir taten es mit Wissen und stiller Genehmigung des Dorfscherriffs. Die damals noch grünen Trachtentupesse wussten genau, wer wann, wo, wie oft und meist auch wie viel wir getrunken hatten. Sie wussten es, weil sie entweder selbst Stammgast in der Kneipe waren oder aber sie wussten es, weil sie auf den allabendlichen Kontrollfahrten immer die gleichen Autos vor den Türen der Kneipen gesehen haben. Und das die da nicht alle Pfefferminztee oder heiße Milch mit Honig konsumierten, lag auf der Hand. Es wurde aber stillschweigend akzeptiert.
Der Zinssatz für´n Kontokorrent oder ein Darlehn wurde zwar nicht ausgeknobelt, aber wenn Theo vonne Tattas (Geld) Filialleiter vonne Kasse, 5 mal beim Schocken sauber an ner Runde vorbeigeschlittert war, erhöhte es die Chance, extrem gute Konditionen beim Kredit zu bekommen.Theo vonne Tattas konnte man Überweisungen mitgeben oder auch Schecks bestellen „Hömma Theo, kann´se mir morgen 5 Blaue mitbringen, dann brauch ich nich ers bei dich vorbei?“, wurde in der Regel mit einem zustimmenden Nicken beantwortet. Es kam jedoch vor, das Theo vonne Tattas auf diese Frage ganz leicht, kaum wahrnehmbar, den Kopp schüttelte. In diesem Fall übernahm der Wirt das. Wenn keiner hinsah schob er dezent zwei Blaue rüber und sagte: „Gib´s zurück wenn´s wieder passt, woll“ und feddich. Bargeldlos zahlen? In meiner Kneipe problemlos möglich. Hattest du mal nix auf de „Täsch“ konntest du einen Deckel machen. Unbestätigten Gerüchten zur Folge hatte der Wirt von einigen Stammgästen sogar ne Einzugermächtigung vom Konto.

Es gab legendäre Dämmerschoppen in der Kneipe. Dönekes (Späße) gab es genügend. Mal stand das Pferd nicht auf dem Flur, nein es stand vor dem Tresen und wieherte lallend nachdem es einen Eimer Bier gesoffen hatte. Mal wurde der neuer Heimtrainer vom Wirt getestet. Wer auf dem Tacho die Fuffzich erreichte und die Geschwindigkeit mindestens 10 Sekunden stabil halten konnte, bekam 5 Striche vom Deckel gestrichen. Wer nich über 25 kam, ich, musste ne Thekenrunde schmeißen. Klümkes Karl (Kioskbesitzer) nannte das Ding in Ermangelung eines stabilen Wortschatzes auf Grund massiven Genusses von gegärtem Hefesaft: „N´Fahhrad mit dem man nich wech fahren kann ...“

Alle saßen einträchtig nebeneinander, kujerten (redeten) dumm Zeuchs, knobelten, droschen nen anständigen Skat, diskutierten die Schiedsrichterentscheidungen der letzten Bundesligaspiele und sprachen über die aktuellen Ereignisse unseres Dorfes. Auf som Dorf kannst du nix verheimlichen. Jeder weiß alles von jedem. Schiffst du oben am Ortsausgangsschild, weiß Omma Tinni, die am Ortsausgang wohnt das schon, bevor du die Buxe widda zu hast. Und sie weiß auch, wie du bestückt bist und ob du schon Prostataprobleme hast. Jepp wir ratschten und tratschten, ähnlich wie unsere Frauen beim Kaffeeklatsch oder dem täglichen Einkauf im Dorfedeka.
An der Theke wurden größere und kleinere Geschäfte gemacht. Aufträge wurden auf Zuruf vergeben. Dorfkneipe war die heutige Handwerkerbörse im Internet. Nur einfacher. „Hömma Erwin, wat kost bei dich´n neues Badezimmer? Mein Tresken will getz dat wir den Donnerbalken und de Zinkwanne nach innen verlegen. Getz wo der Hens beim Barras is und sich nächstes Jahr unser´n ollen Kotten (Stall) umbaut, brauch der dat Zimmer nich mehr. Also wat sach´se? Wat kost dat? Passens up ich geb dir´n Dusender (1.000 DM), nen Kalb und zwei Ferkel. Bevor du feddich bis is dat eine ne fertige Kuh und das andere sin ausgewachsene Säue und schlachten tu ich dir de Viecher auch noch. Na wat sach´s sin wa im Geschäft ...“ Wenn´s passte wurde noch einer drauf bestellt und gut war´s.
In der Kneipe wurden Belange des Dorfes diskutiert und organisiert. Per Handschlag, besiegelt mit Pils und Korn wurden Trecker gekauft, Äcker oder Wälder verkauft, Jobs vermittelt, Wohnungen gemietet oder Töchter verheiratet. „Hömma Juppes, du has doch´n ähnlichen Ladenhüter vorm Ofen sitzen wie ich. Nur dein Gustav hat´n Vollbart und mein Leni nur so´n schwatten Oberlippenflaum. Mein´se nich die wären wat fürnander? So´n Krösken (Tete-a-tete) hatten die ja letzte Woche schon auffe Halle, beim Fell versaufen, als wa Oppa Hubert auf 1,80 gelegt haben (beerdigt haben). Kerokiste bevor bei der de Furche so trocken is, wie mein Acker im Sommer ´74 und beim Gustav de Permien (Spermien) so ranzich sind, wie de Butter vom Bauer Paule, können wa die doch verehelichen odda? Die beiden sin zusammen so alt wie unser Omma Trine und die is fast neunzich. Gut, der schlauste iser nich dein Gustav aber bei unser Leni wird´s ja auch selten heller, als bei uns im Kohlenkeller. Abba Juppes getz ma ährlich, wenn die weiter so ineinander rumfurkeln, dann gibt’s nen Blach, dat der Pastor nich taufen will, weil dat Gör (Kind) vonner Rollichkeit (Geilheit) und nich aus ner ehelichen Liebe raus entstanden is. Kenn´sen doch den ollen Lurch. De Sünde vonner Kanzel predigen, dat se uns in symmetrischer Reihenfolge vorm inneren Auge erscheinen, aber selbs nach´m Sonnatchsbraten bei seine Zugehfrau noch ma de Röhre putzen. Als Mitgift kriste den halben Schützkenacker und de Wiese oben am alten Forsthaus. Also wat is nu Jupp …?“ Jupp lies das sacken und: „Jau so mak wi dat. Abba nur wenn de deinen Karli noch übba meine Henriette schicks, wonnich. Und nu mach ma einen feddich hier …!“ Hier war nur uns Eingeweihten klar, dass Karli der Zuchtbulle und Henriette die preisgekrönte Kuh war.
Gäste von außerhalb die hin und wieder in der Kneipe auftauchten, beschlich wohl oft das Gefühl, dass die Situation kurz vor einer brachialen Eskalation, mit anschließender, zünftiger Sauerländer Hauerei stand, weil leise waren wir selten. Dumme Sprüche, die mit „Du ollen Lappes“ oder „Du selten dämlicher Lurch“ begannen und dann mit wenig Akkuratesse lautstark weiter ausformuliert wurden, wurden über die Theke gedroschen, wie die Bälle zwischen Boris Becker und Ivan Lendl im Wimbledon Finale 1986.

Hunderte solcher und ähnlicher Gespräche habe ich im Laufe der Zeit mitbekommen. In der Kneipe wurde Tacheles geredet. Nich drum rum, nich hintenrum, sondern immer schnack raus damit. Wichtig dabei war, dass man trotz manch heftiger Auseinandersetzung das Problem wirklich ausdiskutierte. Hier trat der Wirt dann als Schlichter auf. Er beruhigte die erhitzten Gemüter in dem er „Pilsken drüber goss“. Ich habe es nie erlebt, dass zwei Kontrahenten im Streit aus der Kneipe gegangen sind. Harte, offene Worte ja gab es, aber am Ende saß man wieder einträchtig beieinander und widmete sich dem wesentlichen … Pilsken trinken und Spass haben.

Die Kneipe ist nun schon seit über 10 Jahren geschlossen. Der Wirt ist gestorben und kurze Zeit später auch die Wirtin. Ich lebe auch nicht mehr in dem Dorf. Nein, nicht weil die Kneipe zugemacht hat, sondern weil mich die Liebe noch ein wenig tiefer ins Sauerland gelockt hat. Doch auch hier suche ich vergeblich nach einer so typischen Kneipe. Selbst hier, im tiefen Sauerland, in Dörfern die früher für knapp 1.000 Einwohner mindestens zwei Kneipen hatten, ist nichts mehr. Es gibt einige Initiativen, die alte Dorfkneipe wieder zum leben erwecken, in dem sich die Dorfgemeinschaft zusammentut und und sie an zwei oder drei Abenden in der Woche, gemeinschaftlich betreibt. Ist eine Alternative, auch eine gute wie ich finde, aber eben in neu Deutsch „Kneipe 2 Punkt null“.
Kneipenkultur ist durchaus noch vorhanden. Wenn ich mit meiner Frau Urlaub im schönen Deutsch“e“land mache, finde ich Kneipen. Tolle Kneipen, ursprüngliche und urige Kneipen. Kneipen die all das haben, was ich von „meiner“ her kenne. Kneipen die der zentrale Kommunikations- und auch Treffpunkt sind. Kneipen die eben dafür sorgen, dass die Vereinskultur fortgeführt wird.

Aber die so typischen Kneipen und Eckkneipen werden immer weniger. Schade … aber was bleibt sind eben die Erinnerungen und ich bin glücklich und froh, dass ich sie habe.

Autor:

Peter Hesselmann aus Arnsberg

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Eine/r folgt diesem Profil

2 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.