BESUCHSZEIT - Altersheim

„Dort drüben am Fenster sitze ich den ganzen Tag,“ sagte der alte Mann, der bisher schweigsam auf der Bettkante hing wie ein Buckliger. Oder hatte er nicht mehr die Kraft zum Sprechen?
So oder so schob er irgendwie sein Kinn nach vorn, als könnte er sonst die Gewalt über seinen Mund verlieren.
Kurz, Herr Kowalki war ein knorriger Mann, der an Rheuma litt. Dass er ein Leben lang schwer arbeiten musste, war vermutlich nicht das schlimmste Schicksal, das ihm widerfuhr. Dass es aber durch die Technisierung der Arbeitswelt derartig ausgelaugte Männer in Zukunft nicht mehr geben würde, konnte Herrn Kowalki wohl kaum noch interessieren.
„Ja…,“ sagte Kowalki leise, „…seitdem ich nicht mehr mein Tagebuch führe, spreche ich mit den Vögeln. Das ist sonst nur im Märchen möglich.
Ich verlasse schon seit Jahren nicht mehr diesen Raum. Mein Zimmer liegt am Ende des Flures. Aber ich schließe nie ab.
Im Übrigen bekomme ich nur selten Besuch. Deswegen habe ich mir schon lange abgewöhnt auf etwas zu warten. Denn Warten macht müde. Und immer nur warten tut weh.
Gut, gelegentlich kommt der Priester aus dem Nachbardorf vorbei. Eigentlich will ich das gar nicht. Denn dann weiß ich wie einsam ich bin.
Aber die Tierchen da draußen vor meinem Fenster beschäftigen mich immer noch,“ lächelte er. „Jetzt habe ich aber viel geredet…und wie geht es Euch?“ sagte der alte Kowalki und atmete schwer.
Seine Tochter lächelte nervös, während sich ihre Frisur langsam auflöste:
„Unser Alltag ist so spannend wie die Liturgie…“
„…und jeder Furz von ihr wird zur Hostie,“ lachte der Schwiegersohn gereizt.
„Ja…,“ lächelte der alte Kowalki gutmütig, „…unser Kind war schon immer anders.“
Der Alte stand umständlich auf und schlurfte um den Tisch herum, als müsste er mit seinem Hosenaufschlag den Fußboden aufwischen.
Man sollte die Menschen nicht nach ihren geflickten Hosen beurteilen, dachte der Schwiegersohn.
„Hast du nicht irgendwo Mutter gesehen?“ fragte der alte Kowalki besorgt.
Seine Tochter schüttelte den Kopf:
„Mutter ist schon lange tot!“
„Ach so,“ antwortete er.
„Du hast uns ja einen ganz schönen Mist hinterlassen,“ beherrschte sich seine Tochter, als spräche sie mit einem Kind. „Selbst in deinem feuchten Keller stand noch das Eingemachte herum. Wir haben alles in den Container geworfen. Das hättest du mal hören müssen wie die Gläser zersprangen.“
Ihr Vater zwängte sich quälend langsam aus seiner Jacke, während er die Beine ineinander verknäulte:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen...,“ lächelte der Alte mit geschlossenen Augendeckeln. „Ich fühle mich wie ein Dichter, der sich im dunklen Wald verirrt…,“ flüsterte er plötzlich und hielt sich dabei die Ohren zu:
„Wo bist du mein Kind?“
„Vater, wir müssen dann mal wieder…,“ sagte die Tochter gereizt und setzte den Vater in seinen Rollstuhl.
Sie schob den alten Mann in den Aufenthaltsraum und stellte ihn so ab, dass er durch das Fenster hinaus sehen konnte.
„Wir kommen bald wieder,“ sagte die Tochter und gab dem alten Kowalki einen flüchtigen Kuß, während sie die Rollstuhlbremse fest zog.
Der alte Kowalski starrte vor sich hin, als säße er in seinem Vorgarten, um die Vögel zu füttern.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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