Großeltern und ihre Enkel - gestern und heute

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Ich sehe sie vor mir, meine Oma Maria. Fotos mit weißgezackten Rändern in schwarzen Fotoalben, die Seiten getrennt durch Transparentpapier, beschriftet mit weißer Schönschrift und viele einzelne Fotos im Schuhkarton krame ich hervor.

Meine Oma Maria ist 92 Jahre alt geworden. Sie war der Mittelpunkt unserer Familie, lebte in einem kleinen Dorf im Möhnetal. Ich war eines ihrer ältesten Enkelkinder. Ich erinnere mich, dass Opa Caspar im Sommer im Hof saß und aus Birkenreisig Kehrbesen herstellte oder aus Weidenruten Körbe flocht.

Heilige Drei Könige, ein Festtag im Januar jeden Jahres in unserer Familie, trafen wir uns in der „guten Stube“ im Elternhaus meiner Mutter. Wir, das waren ihre 9 Kinder, 8 Schwiegersöhne und Schwiegertöchter und 28 Enkelkinder! Eine wahrlich große Familie feierte den Namenstag von Opa Caspar. So war es auch zu Ostern: ein Freudenfest für uns Kinder. An ihrem hölzernen, riesengroßen Küchentisch versammelten wir uns, färbten Eier mit Rote Beete, rieben sie mit Speckschwarten ein. Sie glänzten herrlich. Oma und Opa hatten Zeit mit uns die „Reise in die Ewigkeit“ zu spielen. Auch Mühle, Dame, Halma, Schach lernten wir von ihnen.

Jeder von uns trägt sicherlich eine Vielzahl solch unauslöschlicher Erinnerungen in sich. Doch ich frage mich: Gibt es heute diese Familienbande noch? Eine Liebe zwischen den Generationen, die für´s Leben prägt. Hat sich das Verhältnis zwischen Enkeln und Großeltern verändert? Stehen wir heute vor Familienkrisen und Generationengräben - bei gestiegener Lebenserwartung, bei gesteigerter Erwerbstätigkeit der Mütter, bei größerer Mobilität und der Situation der Alleinerziehenden, der Einzelkinder, der Scheidungskinder und Patchwork-Familien?

Zerfällt die Großfamilie?

Keinesfalls!

Großeltern und Enkel stehen heute oft einander näher als je zuvor. Vielleicht sprechen sie heute gelegentlich auf eine andere Art miteinander - per Skype mit dem Internet-Telefon, per e-mail oder mittels einer Internetkonferenz. Technik macht´s möglich, auch über weite Entfernungen hinweg intensive Kontakte und Beziehungen zu pflegen. Familienforscher stellen eine neue Nähe der Generationen fest, ein verändertes Bild unserer heutigen Gesellschaft mit einem emanzipierten Verhältnis zueinander.

In den vergangenen 20 Jahren haben Enkelkinder „neue“ Opas und Omas bekommen: sie sind toleranter, aufgeschlossener, eigenständiger und intensiver am Familienleben beteiligt. Selten zuvor haben Großeltern im Leben ihrer Enkel eine größere Rolle gespielt als heute. Die Chancen auf eine lange, gemeinsame Lebenszeit sind größer denn je und damit auch die Möglichkeiten, eine enge emotionale Bindung aufzubauen. Heute haben die Enkel durch neue Partnerschaften der Eltern und Großeltern nicht selten drei Großelternpaare. Deren Zuwendung konzentriert sich umgekehrt auf immer weniger Enkel. Kontakte zwischen Oma, Opa, Eltern und Kindern sind vielfach intensiver als zwischen den Geschwistern - wenn es Geschwister überhaupt noch gibt. Für die Großeltern sind ihre Beziehungen zu Kindern und Enkeln die wichtigsten von allen. Deshalb leiden „Scheidungs-Großeltern“ auch häufig unter den spärlichen Kontakten zu ihren Enkeln. Sie suchen Rat, Trost und Hilfe vielfach in der „Bundesinitiative Großeltern“.

Auch die wachsende Sorge um die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Rente lässt viele Familien wieder emotional enger zusammenrücken. Die Familienforschung in Deutschland hat festgestellt, dass fast ein Zehntel von Omas und Opas Rente an die Kinder und Enkel fließt. Nicht selten findet man auf dem flotten Flitzer eines jungen Menschen den Aufkleber “gesponsert durch Oma“. Ein Zeichen der Umverteilung in den Familien. Gerade in Notlagen ihrer Kinder und Enkel springen die Großeltern oft ein. Dabei kümmern sich die Älteren häufig länger um die Jungen als umgekehrt.

Großeltern haben das kostbare Gut, das berufstätigen Eltern so sehr fehlt: Zeit!
Und die ist es auch, die sich Enkel am meisten von ihren Großeltern wünschen. Die neue Großeltern machen heute durchaus auch ihre eigenen Pläne, gehen auf Reisen, studieren, ziehen in den Süden, verlieben sich neu, holen Dinge nach, zu denen sie in der aktiven Berufs- und Familienphase nicht gekommen sind.

Die Autonomie und Unabhängigkeit der Großeltern als auch die räumliche Entfernung kollidiert durchaus schon mal mit dem Wunsch der Kinder und Enkel auf eine jederzeitig abrufbare Unterstützung. Sind die eigentlichen Großeltern nicht „greifbar“, so suchen Familien häufig „Ersatz-Omas, Leih-Opas oder auch Paten“, um den Kindern die Chance zu geben, ältere Menschen kennen- und schätzen zu lernen. Eine Chance für beide Seiten. Es müssen nicht unbedingt die leiblichen Großeltern sein.

Sind Großeltern heute durch ihre eigenen Interessen egoistischer geworden? Nein! Sie können sich auf die ihnen wichtigen Momente im Leben der Enkel konzentrieren. Es gibt heute ein zunehmend dichteres Netz von Kindertageseinrichtungen und Schulen mit Ganztagsbetreuungen, Tagesmütter, Krabbelgruppen etc, sodass Oma und Opa nur noch in Ausnahmefällen, bei Krankheit, in Übergangszeiten, in den Ferien, bei Engpässen, als Babysitter einspringen müssen. Wo solche Kinderbetreuungsangebote genutzt werden, sind Oma, Opa oder auch Paten häufig eher bereit, sich einbinden zu lassen, wenn sie gebraucht, nicht zeitlich überfordert und überstrapaziert werden.

Gerade die heutigen Großeltern, die sich nicht einmischen, die nicht versuchen, den Enkeln die Werte und Anschauungen überzustülpen, prägen die Wertehaltungen am nachhaltigsten. Als vertraute Bezugspersonen, stellen Großeltern für die Enkel eine wichtige erste Brücke in die soziale Welt außerhalb des Elternhauses dar. In der Gunst ihrer Enkel stehen Opas heute den Omas nicht nach, sie gestalten ihre Rolle ganz aktiv mit und nehmen schon früh enge Bindungen zu den Enkeln auf. Gerade weil sie häufig an der Erziehung ihrer eigenen Kinder nur wenig beteiligt waren, holen sie dieses bei ihren Enkeln nach. Sie wechseln die Windeln, schieben selbstverständlich und stolz den Kinderwagen, sind Babysitter, spielen, gehen in Museen, basteln, werkeln, erzählen Geschichten und erklären die Welt. Im Alter von Stimmbruch und Zickigkeit werden Großeltern häufig zu Verbündeten, zu vertrauten Menschen, mit denen sich die Enkel über die „verflixt schwierigen Eltern“ oder über Herzschmerz und Liebeskummer ausweinen können. Die Gespräche tun beiden Seiten gut, denn die Erinnerung an den ersten Kuss und die „Schmetterlinge im Bauch“ , die auch ein älterer Mensch nicht vergisst, führen häufig zu sehr vertrauten Gefühlen zwischen den Generationen. Nach dem Motto: „Ich weiß, wovon Du sprichst, ich kenne das Gefühl...!“

Oma und Opa verstehen vieles in dieser Zeit besser als die eigenen Eltern. In der Pubertät wechseln die Großeltern häufig ihre Rollen: Sie gehen mit den Enkeln ins Kino, einkaufen, organisieren zusammen Rad- und Motorradtouren, klettern und diskutieren über „Gott und die Welt“, über soziale und moralische Fragen, über Taschengeld, Mofa und Piercing. Nicht selten führt diese enge Bindung dazu, dass auch im Fall der Hilfsbedürftigkeit und Pflege von Großeltern die Enkel in den Familien unterstützend tätig werden.

Eine Liebe, die durchs Leben trägt. Je vertrauter die Generationen sind, desto eher sind sie auch bereit, sich zu unterstützen und zu helfen. Beziehungen zwischen Großeltern und Enkel können durchaus streckenweise anstrengend sein - doch sie sind und bleiben ein Bündnis der Generationen, das Mut macht. Gestern wie heute! Danke Oma Maria und Opa Caspar für die Zeit, die wir miteinander verleben durften. Sie haben meinen Werte und Haltungen nachhaltig geprägt.

Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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