Ein Bild - Eine Geschichte
Spuren im Schnee

Zitternd schlang Elisabeth ihre Arme fester um sich und schaute den Weg entlang. Über Nacht hatte frischer Schnee den Park in eine weiße Decke gehüllt. Sie wartete nun seit fast einer Stunde und spürte ihre Zehen vor Kälte kaum noch. War alles doch nur ein Traum gewesen? Nach all den Jahren, in denen sie auf ein Lebenszeichen von Johannes gehofft hatte, war er ihr letzte Nacht im Schlaf erschienen. An dieser Stelle sollte sie bei Sonnenaufgang auf ihn warten, er würde kommen und sie mit sich nehmen. Doch die Sonne blinzelte bereits durch die kahlen Bäume und bald würden die ersten Spaziergänger die Winterlandschaft genießen und ihre Spuren im Schnee hinterlassen. Unschlüssig schaute Elisabeth sich um. Hatte sie wirklich geglaubt, Johannes wiederzusehen? Im Morgengrauen war ihr noch alles so wirklich vorgekommen, doch je heller die Sonne strahlte, desto größer wurde die Gewissheit, dass sie sich getäuscht hatte. Nicht nur letzte Nacht sondern die ganzen letzten zehn Jahre, nachdem Johannes von einer Dienstreise nicht zurückgekommen war. Sie hatte ihre Ohren vor dem Geflüster der Nachbarn verschlossen, dass er sie für eine andere Frau verlassen hatte. Ihr Johannes hätte das nie getan und doch war er nicht zurückgekehrt. Er war einfach verschwunden, selbst die Polizei hatte keine Spur von ihm finden können. In der Ferne hörte sie einen Hund bellen und schüttelte mutlos den Kopf. Es war vorbei, sie sollte endlich einen Schlussstrich ziehen und nach vorne schauen. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als sie ein leises Knacken hörte. Sie starrte in die Büsche. Das Knacken ertönte wieder, diesmal lauter und es kam vom Weg. Elisabeth hielt den Atem an. Vor ihr begann die Luft zu flimmern und plötzlich tat sich ein Spalt auf, so als ob ein Vorhang auseinandergezogen wurde. Sie konnte verschwommen eine grüne Wiese sehen und hörte Wasser plätschern. Der Spalt wurde breiter und ein Mann machte einen großen Schritt in den Schnee. „Hallo mein Schatz, tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat, aber der Zugang ließ sich schwerer öffnen, als ich dachte.“ Er hielt ihr auffordernd die Hand hin. Elisabeth starrte ihn an. Da stand Johannes vor ihr, älter, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber er war es eindeutig und er sprach mit ihr, als hätten sie sich nur für eine Woche nicht gesehen. „Was ist, kommst du nun, oder willst du hier zu Eis erstarren?“ Er grinste sie spitzbübisch an. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte auf ihn zu und legte ihre Hand in die seine. Er zog sie in seine Arme. Elisabeth machte sich los und starrte ihn böse an. „Was fällt dir eigentlich ein? Erst verschwindest du für zehn Jahre und dann tust du so, als sei nichts gewesen!“ Johannes zog sie wieder an sich. Sie ließ es geschehen und legte ihren Kopf an seine Schulter. „Ich war auf dem Weg nach Hause, als ein Reh über die Straße lief. Ich konnte ausweichen, bin aber im Graben gelandet, natürlich in einem Funkloch. Auf dem Weg in die nächste Ortschaft muss ich durch ein Tor gegangen sein, plötzlich war ich in einer anderen Welt. Ich habe zehn Jahre gebraucht, um einen Weg zu dir zu finden. Wirst du mitkommen? Es ist schön auf der anderen Seite, aber das Tor bleibt nicht ewig auf, du musst dich jetzt entscheiden.“
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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