Lesen aus dem Bücherschrank: 1. Das Lazarus Kind

Wer einen Bücherschrank in der Nähe hat, wird ihn zu schätzen wissen. Nicht nur, dass es höchst interessant ist, sein Eigenleben zu verfolgen; ihm einen Besuch abzustatten, bedeutet auch jedes Mal, sich eine kleine Auszeit zu nehmen. Ob zum Zwecke eines Rundgangs an der frischen Luft, nach der Kirche oder nach einem höchst unerfreulichen Besuch beim Zahnarzt, das Öffnen der Klappen, das Lesen der Buchrücken und der Inhalte, das Stöbern und Zurechtrücken lenken ab und ordnen den Blick und das Erleben des Tages neu.
Sich Bücher mitzunehmen, ist dabei absolut kein Risiko, denn zu Hause lässt sich ja in aller Ruhe die Entscheidung treffen, ob man es tatsächlich lesen möchte oder ob der Griff vielleicht ein Fehlgriff war. Dann stellt man es eben später einfach wieder zurück, ohne sich zu ärgern, dass man Geld für einen Titel ausgegeben hat, der nicht hält, was er verspricht.

Nun ist es ja nicht so, dass man zu Hause keine Bücher hätte, die man noch nicht gelesen hat. Gegen dieses Fieber helfen sie nur leider nicht; denn ein einmal aufgestellter, öffentlich zugänglicher Bücherschrank ist und bleibt hochinfektiös. Man könnte was verpassen, wenn man nicht doch eben schnell mal wieder hingeht und hineinschaut.

Vielleicht hat gerade jemand ausgerechnet diesen einen Titel reingestellt, den man schon so lange auf dem Schirm hat und so gerne unbedingt einmal…

1. Mawson, Robert: „Das Lazarus Kind“ Roman, 1998

Der zwölfjährige Ben muss auf dem Weg zur Schule den schweren Verkehrsunfall seiner kleinen Schwester Frankie und deren Freundin, die er begleiten sollte, mit ansehen. Unbeachtet steht er am Fahrbahnrand, dem Geschehen und seinem Erleben von Versagen, Schuld und Konsequenzen hilflos ausgeliefert. Das Leben der Familie ist fortan auf den Kopf gestellt, denn Frankie liegt seitdem in einem tiefen Koma, das nach langem Hoffen und Bangen als dauerhaft vegetativer Zustand diagnostiziert wird. Insbesondere die Mutter klammert sich an kaum erfüllbare Hoffnungen auf ein Lebenszeichen und reibt sich in den Bemühungen um ihre kleine Tochter auf. Die Familie droht endgültig an dem Ereignis zu zerbrechen.
Als auch Bens körperlicher und psychischer Zustand immer schlechter wird, steht die Familie vor der schweren Entscheidung, Frankie aufzugeben oder alles auf eine Karte zu setzen und sich an eine amerikanische Neurologin zu wenden, die sich in unkonventioneller Weise den unerforschten Bereichen des Unbewussten zu nähern versucht, um verlorene Kinder zurückzuholen. In dem Wissen, dass ihr Vorgehen in Spezialistenkreisen höchst umstritten ist, willigt die Familie auf Bens besonderen Wunsch schließlich in die Behandlung ein. Gegen den Rat der Spezialisten begeben sie sich nach Amerika.

Der Roman setzt sich in eindringlicher und phasenweise emotional sehr aufwühlender Weise mit einem ethisch ausgesprochen schwierigen Thema und mit den Grenzen des Menschseins auseinander. Dabei gelingt es dem Schriftsteller, die Fragwürdigkeit manchen Handelns gekonnt in Szene zu setzen, die Auseinandersetzung mit eigenen Moral- und Lebensvorstellungen anzustoßen und die Frage in den Raum zu stellen, um welchen Preis man ein Menschenleben am Leben halten oder einen Menschen in ein Leben zurückholen darf und möchte, ohne wissen oder ahnen zu können, was dieses „Leben“ des anderen überhaupt noch bedeuten kann und wird, geschweige denn, was dieses unter Umständen nur vegetierende Leben mit dem eigenen, auch psychischen Er-Leben macht.

Dieser Roman über den Zerfall des Lebens und Zusammenlebens, über Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und tiefe Hoffnung ist keine leichte Kost, entfaltet aber dennoch einen solchen Sog, dass man es fast in einem Rutsch durchlesen möchte. Ich persönlich halte es angesichts der Thematik, mit der grundsätzlich jeder von einem Augenblick zum anderen konfrontiert sein kann, für durchaus lesens- und empfehlenswert.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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