Wenn Erwachen quält und der Tag einfach nicht beginnen möchte

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Morgens ist es am allerschlimmsten. Aufwachen, zu sich kommen, bewusst werden. Warum wieder aufwachen, wenn man doch eingeschlafen war? Warum ein neuer Tag? Noch einer. Und noch einer. Immer wieder.
Die kranke Seele will den neuen Tag nicht mehr. Sie will das Erwachen jedes neuen Tages nicht mehr aushalten, weil auch der Körper nicht mehr kann. "Bitte lass mich nicht mehr aufwachen."

Mit Erwachen des Bewusstseins ist der Körper dieser Seele schwer wie Blei. Er tut der Seele weh und die Seele tut dem Körper weh. Die Schmerzen sitzen überall. Sie füllen diesen Körper aus und kriechen bis in seinen allerletzten Winkel. Er brennt wie Feuer, der Körper, der zusammen mit der Seele auf dem Bett liegt; eine riesengroße Wunde, bedeckt mit Steinen, deren Kanten sich in den schwer verletzten Körper bohren.

Sich umzudrehen hilft nicht. Mit jeder Drehung drehen sich die Schmerzen mit. Es tut in jeder Lage weh. Die Rückkehr in die dumpfe Dunkelheit des Schlafes gelingt nicht mehr. Die Schmerzen sind schon zu bewusst geworden, auch die Panik ist erwacht, der Körper liegt in Schweiß gebadet, weil die Seele es nicht schafft, die Dinge aufzuräumen, die nicht aufzuräumen sind. Mit jedem Erwachen ist es wieder da, das Bewusstsein eines Traumas, das nicht zu ertragen ist.

Wieder hat der Schlaf nicht helfen können, zu vergessen, was vergessen werden soll, weil andere wollen, dass man es vergisst.
Wieder hat der Schlaf nicht helfen können, zu begreifen, dass das Trauma nie ein Ende haben wird, weil ein geschädigter Patient nie Recht erhalten wird.
Wieder hat der Schlaf nicht helfen können, zu verdrängen, dass das Recht für den Behandelnden gemacht ist und nicht für den Patienten.
Wieder hat der Schlaf nicht helfen können, zu verstehen, dass das Leben schön sein könnte, wenn man doch endlich nur vergessen könnte. Vergessen - und sich einfach wohl fühlen.

Vergessen geht nicht. Es hat sich in die Seele eingebrannt und auch in den Körper. Es hat ihn schwarz und schwer gemacht. Und es macht die Tage schwarz. Jeder Tag ist schwarz. Im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Es ist schwarz, auch wenn die Sonne scheint.
Keine Freude auf den Tag. Keine Neugier auf das, was er bringen wird. Keine Hoffnung, dass es endlich besser werden könnte. Nur noch Schwäche, Kraftlosigkeit, Erschöpfung - und diese Schmerzen, die so brennen, als fließe heißer Strom aus einer Steckdose direkt durch den Körper und steche mit tausend kleinen Nadeln in jede kleinste Zelle.

Der Wecker auf dem Nachttisch meldet, dass aufgestanden werden muss, weil andere den kaputten Körper brauchen. Er muss für sie noch funktionieren.
Der hässlich laute Ton zerteilt den heißen Strom der Steckdose und schneidet wie ein Messer in das weiche Fleisch. Mit Mühe stemmt der Körper die Stahltür auf, die zwischen der Horizontalen und der Vertikalen durchschritten werden muss. Er nimmt die Schmerzen an der Hand und steht mit ihnen auf, um den Tisch zu decken und den Tee zu kochen, um Äpfel zu schälen und Brote zu schmieren, die die Kinder für die Schule brauchen.

Die Seele bleibt jenseits dieser Stahltür liegen und zieht die Decke über sich. Sie will den Tag nicht sehen. Sie kann die Betriebsamkeit der anderen nicht ertragen, die lebenstauglich sind, die sich behaupten können und ihr Geld verdienen, um zu leben.
Sie kann die Fröhlichkeit des Lebens nicht ertragen, das nicht ihr Leben ist.
Sie kann die Farben nicht ertragen, die nicht ihre Farben sind und vor allem das Vorbeiziehen des Lebens nicht, das nicht stehen bleibt, nur weil sie krank ist und keine Kraft mehr hat, an diesem Leben teilzunehmen, das es nur einmal gibt; das vorbei ist, wenn einer endlich aus der Depression erwacht, um ein Leben in Freiheit zu beginnen. Ohne diese Fesseln, die man nicht sehen kann.

Ungezählte Stunden des Tages verstreichen, bis Körper und Seele endlich hineingefunden haben. Stunden wie Einheitsbrei, Stunden, die wehtun und weiter Leben aus dem Körper ziehen, weil das Bewusstsein nicht auszuschalten ist, das immer weiter meldet, dass der Körper ein Versager ist und das Leben wegläuft. Dorthin, wo es nie mehr wieder einzufangen ist.
Die Stunden des Morgens sind Stunden, die die Kraft kosten, die der Körper gar nicht hat. Es klingt nach Diagnoseschlüssel relativ belanglos, dieses extrem belastende Symptom der Depression: das „Morgen-Tief“, dem es egal ist, ob es nun Teil der Depression oder des erlittenen Behandlungstraumas ist.

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen März 2012

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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