Mord an der Gilsingstraße – Reflektion über eine Tat mit vielen Opfern und eine nicht zu tilgende Schuld

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Am Mittwoch, 30. Mai 2012 lautete das Urteil in einer der bedrückendsten Straftaten Bochums "Lebenslänglich" für die zur Tatzeit 31- jährige Bochumer Arzthelferin, die ihren Liebhaber und Vater ihres Kindes in einer für Außenstehende kaum vorstellbaren Art und Weise tötete.
Der Wunsch nach einem gerechten Urteil dürfe nicht in erbarmungsloser Bestrafung enden, äußerte Strafverteidiger Egbert Schenkel in seinem Plädoyer. Die Angeklagte würde ihr Leben lang an ihrer Schuld tragen. Verhindern konnte er das Urteil „Lebenslänglich“ nicht. Die Verhandlung endete in erbarmungsloser Strafe. http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/mord-an-der-gilsingstrasse-lebenslaenglich-fuer-die-angeklagte-hinterlaesst-grosse-nachdenklichkeit-d173848.html

Wie auch immer das Urteil ausgefallen wäre, es ändert nichts daran, dass alle unfreiwillig von der Tat Betroffenen zu Opfern wurden und ihnen diese Opferrolle für den Rest des Lebens anhaften wird. Eine Befreiung daraus wird kaum möglich sein. Ein Abschließen und ein Vergangenheit werden lassen eines schlimmen Ereignisses wird allein durch die Existenz des kleinen Jungen, der von seinem gesetzlichen Vater als einem betrogenen Ehemann aufgezogen wird, kaum möglich sein.

Die durch die Tat plötzlich völlig veränderte Lebenssituation aller Hinterbliebenen wird bleiben; sowohl die Situation der Hinterbliebenen des getöteten Mannes, als auch der Angehörigen der unerwartet von einem Tag zum anderen zu einer Mörderin gewordenen Arzthelferin http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/tod-an-der-gilsingstrasse-betroffenheit-ueber-den-menschlichen-kontrollverlust-seine-hintergruende-und-seine-folgen-d91366.html

Diese hat seit einem Dreivierteljahr an einer erdrückenden Schuld zu tragen: Sie hat vor anderen, vor allem aber vor sich selber zu verantworten, dass sie ein Menschenleben ausgelöscht, ihr eigenes Leben verpfuscht und das vieler anderer in einen Abgrund gerissen hat.
Sie muss ihr psychisches Erleben aushalten und ihre selbst verursachte Entwurzelung verarbeiten.
Sie, die sich bis zum Tatzeitpunkt als einen ganz normalen Menschen erlebt hat, der seinen Lebensweg gegangen ist, hat in den Verhandlungen anhören müssen, wie andere über das von ihr verursachte Geschehen berichten, denken und urteilen.
Sie hat erleben müssen, wie sie von anderen gesehen wird, die das emotionale Durchleben einer ausweglos erscheinenden Situation nie werden nachvollziehen können, wenn sie nicht selber Vergleichbares erlebt haben.
Sie hat die vielen Schläge eingesteckt und musste sich immer wieder deutlich machen, dass sie sie verdient, weil sie getötet hat.

Das einsetzende Bewusstsein dafür, dass sie Lücken in die Familie des Getöteten, in ihre eigene Familie, in den Freundeskreis des Toten und in den eigenen Freundeskreis gerissen und ihren eigenen Ehemann auf das Schwerste blamiert hat, wird schwer zu tragen sein.
Sich mit diesem Wissen und Erleben selber aushalten zu müssen, ist eine schlimme, wenn nicht die schlimmste Strafe überhaupt, da sie nach Ablauf der Gefängnisstrafe nicht automatisch abgesessen ist. Rechtsanwalt Schenkel hat insofern Recht mit dem Inhalt seines Plädoyers.

Wenn der Gefängnisaufenthalt der jetzt noch jungen Frau und Mutter vorbei ist, wird sie nicht mehr jung sein. Sie hat ein Leben entstehen lassen, das sie nicht begleiten kann. So, wie es den Eltern des getöteten Mannes den Sohn nie wiederbringt, wird es für sie keine zweite Familie mehr geben.

Wenn sie wieder in Freiheit leben darf, wird ihr Sohn die schwierige Phase der Pubertät durchlaufen oder gar schon fast erwachsen sein. Sie wird ihm irgendwann erklären müssen, dass sie seinem Vater das Leben nahm und berechtigt Angst vor seiner Meinungsbildung haben müssen.
Und ihr wird deutlich sein, dass sie anderen Menschen auflastet, ein Kind aufzuziehen, dem sie irgendwann begreiflich machen müssen, warum es dreimal in der Woche für jeweils 45 Minuten eine Frau besucht, die seine Mutter ist und im Gefängnis sitzt, statt wie die Mütter anderer Kinder bei ihm zu Hause zu sein.
Sie bürdet ihnen auf, den Zeitpunkt für diese Erklärungen zu finden.
Sie lastet ihnen auf, die Seele ihres Kindes vor den Angriffen anderer Kinder zu schützen, die grausam sein können, und die Entwicklung seines emotionalen „Ich“ mit einer Kraft zu stärken, die sie u.U. nicht haben, da sie selber Opfer sind.
Es kann eine permanente Überforderung derer bedeuten, die draußen mit den Folgen einer Tat weiterleben müssen, auf die sie selber zu keinem Zeitpunkt einen Einfluss hatten.

Diese Last zu verarbeiten, scheint schier unmöglich. Selbst eine lebenslange Haft wird eine solche Schuld nie tilgen. Dass die junge Frau im Prozess den Beistand einer Seelsorgerin in Anspruch nahm, zeigt ihre Betroffenheit und das Wissen um die Schuld deutlicher, als es Worte tun können.
Bei allem, was passiert ist, darf nicht vergessen werden, dass sie immer noch ein Mensch ist, der fühlt und um die schlimme Schuld weiß, die er auf sich geladen hat. Auch wer im Leben einen schweren Fehler macht, bleibt immer noch ein Mensch.

Einer der den Prozess verfolgenden Zuschauer hatte sich laut Presse bereits längst eine eigene Meinung zu Schuld und Strafmaß gebildet und bekannt, er habe die Frau von vornherein des Mordes für schuldig befunden. Die Umstände zählten für ihn nicht; eine harte Aussage, die tiefe Betroffenheit erzeugt, da sie an der Realität vorbeisieht.

Es sind immer die Hintergründe, die zu einer Tat führen, da es ohne diese Hintergründe nicht zu einer Tat gekommen wäre. Niemand kann wissen, in welche Situation er selber am kommenden Tag hineingeraten kann und wie er auf emotional schwer belastende, die Existenz bedrohende Situationen reagieren wird.
Hätte jemand der Arzthelferin prophezeit, dass sie eines Tages einen Menschen töten wird, würde sie sich genauso an den Kopf gegriffen haben, wie jene, die über diese Tat verständnislos den Kopf schütteln.
Auch wenn grundsätzlich niemand das Recht besitzt, einen anderen Menschen zu töten, ist ein Aburteilen ohne Betrachtung der Hintergründe, die zu einer Handlung führten, so einfach nicht; denn eine Handlung transportiert immer auch ein Problem der Gesellschaft und des persönlichen Umfeldes.

Tiefste Betroffenheit entsteht allein schon daraus, dass aus der Angst heraus getötet wurde. Solange die Angst vor den Folgen einer außerehelichen Affäre derart groß sein muss, dass man eher einen Menschen tötet, als miteinander zu sprechen und gemeinsam nach Lösungen im Umgang mit einer entstandenen Problematik zu suchen, muss sich auch das gesellschaftliche Umfeld über seinen Umgang mit menschlichen Schwächen auseinandersetzen.

Welche Qualität besitzt eine eheliche Beziehung, wenn man einander seine Schwächen nicht anvertrauen kann? Ist es nötig, dass ein Mensch die Angst mit sich herumtragen muss, ein Sprechen über entstandene Fehler könne nicht möglich sein? Ist es nötig, den Eindruck haben zu müssen, dass man den Vorstellungen anderer nicht genügt und deshalb in der Gesellschaft als Mensch nicht so akzeptiert werden kann, wie man ist?

Der eheliche, familiäre und gesellschaftliche Umgang miteinander ist die eine Seite. Die andere Seite ist immer auch man selbst. Mit seinen Fehlern der Vergangenheit und seinen Schwächen muss man vor allem selber umgehen können. Ist man psychisch nicht gefestigt und kämpft mit einem nur geringen Selbstwert, wird man kaum damit zurechtzukommen, dass eine Affäre mit einem Kind vollendet wurde, und zeitlebens mit diesem Wissen eine Ehe in der Familie des Arztes weiterleben können, selbst wenn der jungen Frau verziehen worden wäre.

Es ist die Sicht auf sich selber, es sind die Erinnerungen und dauerhaften Andenken, die eine Zukunft mit einem folgenschweren, weil bleibenden Fehltritt unmöglich machen, wenn man sich selbst nicht annimmt und sich selber nicht verzeihen kann.
Nur so lässt sich erklären, mit welcher Verzweiflung versucht wurde, ein Lebensbild wieder zurechtzubiegen, das vollständig entgleist war. Es wäre nie gelungen, da das Kind immer präsent sein wird.

Angesichts der Problematik des außerehelichen Kindes, das die Tat auslöste, macht noch ein weiterer Aspekt betroffen:
Der Liebhaber wollte seine Vaterschaft leben und pochte auf seine Rechte als Vater. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein halbes Jahr nach der Tat die Rechte deutscher Väter mit einem Urteil stärkte, die mit Kuckuckskindern in einer Familie leben, mutet wie eine Farce an.
Dem Urteil zufolge könnten sich leibliche Väter nicht durch Anfechtung der Vaterschaft des Familienvaters in die Familien einklagen, in die ihre Kinder hineingeboren wurden. Der bestehende Familienverbund zwischen Kind und rechtlichem Vater sei wichtiger, als die Beziehung zum biologischen Vater, so die Straßburger Entscheidung. Deutsche Gerichte ließen vor allem zum Schutz der Kinder nicht zu, dass ein biologischer Vater die gesetzliche Vaterschaft eines anderen Mannes anficht, der mit seinem nicht leiblichen Kind in einer Familie lebt.
Ein Urteil, das für die Angeklagte, die um ihren Familienzusammenhalt fürchtete, zu spät kam.

Abschließend bleibt noch die Frage offen, wo in den Köpfen der Menschen die Möglichkeit einer Inanspruchnahme von Hilfe durch neutrale Dritte wie z.B. der Telefonseelsorge oder des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt Bochum als einer Pflichtversorgung in Krisen geratener Menschen bleibt, die Unterstützung bieten und Wege aufzeigen können, die gangbar sind, ohne dass es Menschenleben kosten muss.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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