Neben der Spur (2) – Quälende Tage

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~ * ~ * ~ * ~ * ~ Quälende Tage ~ * ~ * ~ * ~ * ~

Die Tage durchzustehen, die auf jenen Morgen folgten, an dem plötzlich alles so sehr anders wurde, http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/neben-der-spur-wenn-dem-psychotherapeuten-etwas-zustoesst-d362359.html war fürchterlich zermürbend und ließ prägnante Augenblicke der Behandlung wach werden.
Sich- Sorgen-machen war mehrfach Thema in der Therapie gewesen, weil Rieke sich mit Vehemenz dagegen wehrte, dass Frau Leidenicht sich Sorgen machte, wenn die Patientin wieder einmal später kam. Das genau wollte Rieke nämlich gerade nicht. Sie wollte nicht, dass die Therapeutin sich Gedanken um sie machte und es hatte Zeit gebraucht, bis sie ihr erklären konnte, worin die Problematik für sie lag:
Rieke hatte Angst vor den Überzeugungen Behandelnder und vor deren falscher Schlussfolgerung einer Störung der Persönlichkeit, die auf Rieke so nicht zutraf; und diese Angst war ein Teilaspekt der vor fünf Jahren schädigend verlaufen Behandlung, die die aktuelle Psychotherapie notwendig werden ließ.

Nein, Gedanken um Rieke waren in der Tat nicht angemessen, weil sie alles andere als ein waghalsiger Fahrer war und auf dem Weg zur wöchentlichen Sitzung auf sich achten konnte. Sie hatte aber durch ihr Trauma ein Problem der Zeiterfassung und ein Problem der Abwehr gegen Psychotherapie und Psychotherapeuten, weshalb sie unwillkürlich auswich und nie zügig starten konnte, wenn ihre Sitzung anstand. Wenn die Patientin also später kam, lag es allein daran, dass sie Schwierigkeiten mit sich selbst und ihrem inneren Erleben hatte und nicht daran, dass sie andere glauben lassen wollte, ihr könne was passiert sein, damit sie sich erleichtert zeigten, wenn Rieke doch erschien.
Diese durchaus existente und gefestigte Störungsbild-Ansicht, die dazu diente, Patienten die Diagnose einer „Persönlichkeitsstörung“ aufzudrücken, so wie es Rieke damals widerfahren war, ohne dass man es einmal mit ihr besprochen hätte, fand sie völlig schräg und absolut erschreckend und angesichts des Umdrehens von Absichten fast krankhaft; zumal es so erschreckend aussichtslos erschien, jene, die sich Experten nannten, vom Gegenteil zu überzeugen.

Und nun saß ausgerechnet Rieke selber da und machte sich seit Tagen schwerste Sorgen um die Psychotherapeutin, von der sie immer noch nicht wusste, was mit ihr geschehen war und ob sie überhaupt noch lebte.
Sie spürte mehr und mehr, wie das stützende Gerüst zusammenbrach, das sie mit Hilfe der Behandelnden in den Wochen ihrer Therapie errichtet hatte und das lange noch nicht so stabil geworden war, dass es eine Krise tragen konnte. Und das Verrückteste an dieser Sache war, dass Rieke umso stärker ihren Halt verlor, je mehr sie sich um Objektivität bemühte, weil der nüchtern objektive Blick auf die Sachlage bewies, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Wieder und wieder rief sie sich im Versuch der Bewältigung die Fakten auf:

• Sie hätte am vergangenen Donnerstag um 9.00 Uhr morgens eine Therapiesitzung gehabt.
• Sie war pünktlich dagewesen.
• Die Psychotherapeutin war nicht zum Termin gekommen.
• Sie hatte im Kalender korrekt eingetragen, dass sie um 9.00 Uhr in der Praxis sein würde.
• Die Kollegin der Gemeinschaftspraxis besaß keine Kenntnis über den Verbleib der Therapeutin.
• Es folgte keine Nachricht, weshalb sie nicht gekommen war und kein Angebot einer Verlegung.

Rieke versuchte sich in die Behandelnde hineinzudenken, doch im Grunde hatte sie längst alle Möglichkeiten durch: Was würde sie denn selber tun, wenn sie Psychotherapeutin wäre und ihr etwas passiert war? Wenn sie unterwegs eine Panne hatte, würde sie per Handy auf den AB der eigenen Praxis sprechen und parallel versuchen, die Patienten zu erreichen, damit sie informiert waren und sich keine Sorgen machen mussten. Wenn sie krank geworden wäre, würde sie als erstes die Patienten anrufen, die sie auf den Vormittag gelegt hatte, damit die sich nicht auf den Weg machten und würde dann ebenfalls auf den AB der Praxis sprechen oder die Kolleginnen direkt anrufen, damit sie wussten, dass sie ausfiel. Und sie würde melden, wann sie in etwa wieder einsatzfähig sein würde, damit ihre Patienten eine Perspektive hatten.

Und all das hatte ihre Psychotherapeutin nicht getan und deshalb musste Rieke mit dem schlimmsten rechnen!

Nach der ersten schlaflosen Nacht, die auf jenen Tag folgte, an dem die Therapeutin nicht gekommen war, versuchte Rieke sich noch immer wieder klar zu machen, dass Frau Leidenicht durch die Verspätung selbst so aus der Bahn geworfen sein konnte, dass sie vordringlich die restlichen Termine händeln musste, bevor sie sich um die von ihr Versetzten kümmern konnte.
Sie konnte sehr viel um die Ohren haben, wenn ihr Auto in der Werkstatt war, sie selbst wieder irgendwie nach Hause kommen musste und für sie auch noch das extra frühe Wochenende anstand, das beplant zu sein schien, denn den Freitag dürfte sie sich ja aus gutem Grund freigenommen haben. Vielleicht hatte sie Geburtstag oder irgendjemand sonst und es gab deshalb viele Dinge zu erledigen. Schließlich hatte sie eine Familie, die nicht gerade klein zu sein schien und da konnten ausgefallene Termine so zweitrangig werden, so dass sie es nicht mehr geschafft hatte, sich noch zu melden. Vielleicht stand aber auch ein Termin bei einem Arzt an, nach dessen Wahrnehmung sie nicht so einfach zur Behandlung seelisch kranker Menschen übergehen konnte, weil sie sich Gedanken um sich selber machte, so dass sie frei genommen hatte.

Da am Wochenende ohnehin keine Nachricht zu erwarten war, nahm Rieke sich zurück, so gut es eben ging. Stark verunsichert darüber, wer von den Parteien sich im aktuellen Fall wie zu verhalten hatte, wartete sie noch bis Sonntagabend, um zum Montagmorgen eine Mail zu schicken. In dieser teilte sie der Therapeutin mit, dass sie sich nach der ausgefallenen Sitzung und der unterbliebenen Kontaktaufnahme bezüglich eines Ausweichtermins große Sorgen um ihr Wohlergehen mache und deshalb über eine kurze Nachricht sehr erleichtert sei. Doch die angefügten guten Wünsche und der Klick auf „Senden“ machten schließlich Angst und ließen ausgesprochen bittere Erinnerungen aufsteigen; Erinnerungen an Riekes Klinikzeit vor jetzt fünf Jahren...

Damals war ihre Ex-Therapeutin krank geworden, die parallel auch in der Klinik arbeitete, die Rieke zur Behandlung aufgenommen hatte. Sie war seinerzeit in Sorge, weil die Behandelnde in der gesamten Zeit der ambulanten Therapie nie krank gewesen war und Rieke Angst um ihre Therapiefortführung hatte. Aus dieser Sorge und aus dem „freundschaftlich“ bezeichneten Verhältnis zueinander hatte sich der menschlich aufrichtige Wunsch entwickelt, ihr eine gute Besserung zu senden. Und da die Adresse ihrer Therapeutin offiziell im Telefonbuch stand und diese somit kein Problem damit zu haben schien, wenn man wusste, wo sie wohnte, hatte Rieke ihr dann im Vertrauen darauf einen Gruß geschrieben, dass sie ihr sagen würde, wenn das für sie nicht in Ordnung war.

Dieser Wunsch der guten Besserung aber war der schlimmste Fehler, den sie machen konnte, denn die Therapeutin grüßte sie nicht mehr und sprach auch nicht mit ihr, als sie nach einer Woche wiederkam. Dieses Schweigen und die urplötzliche Distanziertheit, die ihr von der bis dahin warmherzigen Frau entgegen schlug, riss Rieke völlig von den Beinen. Sie knickte damals unbewusst unter schmerzhaft verinnerlichten Erfahrungen der Kindheit ein, die sich mit explosiver Wucht den Weg an die Oberfläche bahnten und Rieke eigenmächtig steuerten. Es brach in einer Form aus ihr heraus, die die Patientin so an sich nicht kannte und auch noch nie zuvor erlebt hatte. Ihr psychischer Zusammenbruch aber hatte im Hinblick auf die freundschaftlich gewordene Beziehung eine schlimme Fehldeutung und nach Beendigung der Klinikzeit den verfügten Abbruch ihrer ambulanten Psychotherapie zur Folge.

„Sie waren schon immer zu sehr auf der menschlichen Ebene und das ist hier auch heute Ihre letzte Sitzung“, hatte die Behandelnde gesagt und die Beendigung verfügt, obwohl Rieke deren Unterstützung zwecks Aufklärung des Ganzen zunächst so dringend nötig hatte, bevor sie hätte gehen können. Offensichtlich waren aber Riekes ehrliche Besorgnis und ihre Menschlichkeit etwas derart Negatives, dass man sie mit Therapieabbruch bestrafen musste und ihn damit begründete. In der Folge erlitt sie dann die Posttraumatische Belastungsstörung, mit der sie erst fünf Jahre später wieder eine Psychotherapie aufnehmen konnte, um das Erlebte zu bearbeiten.

Und jetzt also das: die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Charlotte Leidenicht, zu der sie in so mühsam kleinen Schritten Stück für Stück Vertrauen aufbaute und der sie in der letzten Sitzung dann doch schließlich anvertraut hatte, dass sie gegen diese „alte“ Therapeutin klagte, war verschollen und Rieke wusste nicht, was im Umgang mit ihr und mit der Sache richtig und was falsch war. Es erschwerte und belastete die Behandlung, die therapeutische Verbindung und den Umgang miteinander ausgesprochen stark, wie damals mit ihren Nöten um die Ex-Therapeutin umgegangen worden war.
Und nun saß Rieke wieder hier und verschickte eine Nachricht, deren Folgen sie nicht kannte ...

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© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, November 2013

Anm.: Die Namen der handelnden Personen sind frei gewählt. Auch die verwendeten Fotografien stellen keinen Bezug zwischen der dargestellten Handlung und realen Orten her.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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