Was das Meer sagt...

Feiner gelblicher Sandstrand zog sich an der Küste endlos entlang, eingerahmt von roten gezackten Kreidefelsen auf der einen Seite und dem türkisblauen Meer auf der anderen. Es duftete nach dunklem Tang und Salz, und wenn man sich die Lippen leckte, hatte man diesen Salzgeschmack auf der Zunge. Dann schmeckte man das Meer. Die großen weißen Wolken am Horizont spielten mit dem Wind, oder der Wind spielte mit ihnen, formten sich zu Gesichtern und Geistwesen, um sich dann wieder leicht in dünne Nebelfäden zu verflüchtigen.
Nils war hellblond, rosig gebräunt mit kleinen, kaum wahrnehmbaren Sommersprossen an Armen und Beinen. Seine kinnlangen Flachshaare flatterten unwirsch im Wind. Er trug Shorts und auf seiner Brust wuchs der erste Haaresflaum, ebenso wie an seinem Kinn. Seine Augen waren hellgrün, ein Grün wie die auslaufende Wellen auf dem hellen Sandstrand. Er war dünn, ein wenig zu dünn. Seine schlaksigen Glieder wussten manchmal nicht so recht, wo sie hinsollten.
Er blinzelte in das wogende Meer, blinzelte in Wolken und Sonne und schien den alten Mann zunächst nicht zu bemerken.
„Hallo“ sagte dieser. „Hallo“ sagte der Junge. „Was machst du hier?“ fragte der Mann. „Ich schaue auf das Meer.“ sagte der Junge. „Ja, das tue ich auch immer.“ antwortete der alte Mann. Er musste schon mindestens achtzig Jahre alt sein, schätzte Nils, trug ausgelatschte Sandalen, eine viel zu weite Hose und ein großes Hemd, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Am merkwürdigsten war sein riesiger Schlapphut, der sein Gesicht mit dem weißen Bart halbwegs verdeckte. Doch seine blauen blitzenden Augen stachen wie kleine Edelsteine aus dem gebräunten runzeligen Gesicht hervor.
Eine Weile standen die beiden schweigend nebeneinander, versunken in das Rauschen der Brandung. Nils fand den Alten seltsam, doch irgendwie fühlte er sich auch angezogen von ihm. Da er heute Nachmittag nichts zu tun hatte, eigentlich sowieso nichts zu tun hatte jetzt in den Ferien, ließ er sich die Nähe des Alten gefallen. „Das Meer, was sagt es?“ fragte schließlich der Alte. Eine wundersame Frage, fand Nils. Was sagte das Meer? Was sagte ihm das Meer?
Er schaute in die Weite, zu diesem unendlichen Horizont. Die Wellen glitzerten im Sonnenlicht wie kleine Funken. Er hielt den Blick ganz starr und das Glitzern wurde ein großes Mosaik aus Licht und Farben. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Frage des Alten. „Es ist…“ begann er „Es hat eigentlich alle Farben, ganz helle und ganz dunkle, Licht und Schatten. Es ist…“ aber er wusste nicht weiter. Der Alte sagte: „Es redet mit allen Stimmen. Es plätschert und zischt und gurgelt und rauscht. Hör mal…“
Nils musste sich anstrengen, aber er wusste, was der Alte meinte. „Ja, es ist Musik, aber… es ist grausam, da sind auch grausame Stimmen dabei, so ganz in der Tiefe.“ – „Grausame?“ – „Ja“ sagte Nils. „Es kann sanft und schön sein, und auch dunkel und grausam. Und es verschlingt alles.“
Der Alte runzelte die Stirn. Was hatte der Junge in seinen jungen Jahren erlebt? Er ließ eine lange Pause, wollte nicht in ihn eindringen. Wenn es Zeit wäre, würde dieser es vielleicht sagen.
„Wo wohnst du?“ fragte er den Jungen. „Ich bin hier in Ferien bei meiner Tante. Eigentlich wohne ich in der Stadt.“ – „Ich habe schon immer hier gewohnt, mein ganzes Leben“ sagte der Alte. „Meine Hütte ist in der Nähe. Ich war Fischer.“ Bei dem Wort Fischer zuckte der Junge fast unmerklich zusammen. Er fing sich wieder und sagte: „Mein Vater hatte auch ein Boot.“ und ein langes Schweigen legte sich in sein Gesicht, auf seine Lippen. Ja, er wusste wie es war, ein Boot zu haben, hinaus aufs Meer zu fahren. Er wusste es genau. „Und wo ist es jetzt?“ fragte der Alte. „Er hat es weggegeben.“
Mit einem Male war der Junge weit fort in seinen Gedanken. Es war ihm unmöglich, weiter zu sprechen und er hockte sich in den Sand und begann, Linien zu ziehen. Er zeichnete die Umrisse eines Bootes, eines Segelbootes, und wischte es mit eine schnellen Handbewegung wieder fort, als ob er seine Gedanken fortwischen wollte.
„Mein Boot ist auch schon lange weg. Irgendwann sollte man nicht mehr aufs Meer hinaus fahren, wenn man so alt ist wie ich.“ Sagte der Alte.
„Wie alt bist du?“ fragte Nils. „Über 70.“ Mit einem tiefen stockenden Seufzer, der wie ein Klageruf ertönte, wie ein kaum gehörter stiller Aufschrei sagte Nils: „Meine Mutter war nicht so alt.“ und starrte regungslos auf das Meer. Der Alte wusste, dass er jetzt nichts sagen dürfte und ließ dem Jungen Zeit. Er hockte sich neben ihn. Nach einer endlosen Weile fragte er leise: „Deine Mutter?“ Lange schwiegen sie, sehr lange, bis die Dämmerung einsetzte.
Leuchtende rosa Wolkenfetzen und Tupfen spannen sich im Türkisblau und das Meer glitzerte in einem eigentümlichen Blaugrün. Rhythmisch zischten und gurgelten die Wellen, liefen sanft liefen in unregelmäßigen Bögen auf dem Sand, trieben zurück, um sich dann erneut zu formieren. Die Mondsichel stand hoch, ein nebulöser weißer Schatten gegen Blau des Himmels. Als die Sonne ihre letzten Strahlen sandte und dann orange im Dunst des Meeres versank, segelten einige Möwen tief über dem Wasser.
Der Alte wollte in diesem Augenblick nichts sagen, was den Jungen verschrecken könnte, doch er vermutete, dass dieser schon längst bei der Tante erwartet wurde.
Nils war tief in Gedanken versunken, tief in der Erinnerung, als er sagte: „Mein Vater hatte einen Unfall mit dem Boot.“ Der Alte verstand. „Deine Mutter?“ – „Ja“ sagte Nils. „Ja“. Und mit einem Male brach der wohl gehütete Damm. Sturzbäche ergossen sich, schüttelten den schmächtigen Jungenkörper. Er hockte sich wehrlos in den Sand und schloss seine Arme schützend um seine angewinkelten Knie, sein Kopf versank zwischen den Armen. Ein bebendes, hilfloses Bündel. Der Alte ließ ihn, ließ ihn seine Trauer fühlen. Es war schwer, hier etwas zu sagen. Und doch wollte er es versuchen.
Nach einer Weile, als das Schluchzen abebbte, begann er vorsichtig und sanft zu dem Jungen zu sprechen. „Manchmal verstehen wir nicht, warum etwas passiert. Und warum gerade uns. Wir kennen die Gedanken des Meeres nicht. Es kann unendlich schön sein und unendlich grausam. Auch die Sonne ist schön, und wenn sie zu heiß brennt, tut sie uns weh. Und das Feuer ist gut für unsere Wärme, und es vernichtet anderswo. Der Wind ist angenehm am Meer, und kann zu einem fürchterlichen Sturm werden. Deine Mutter… lebt jetzt in der anderen Welt, wo weder Meer, Sonne, Feuer noch Wind ihr etwas anhaben können.“
Nils hatte aufgehört zu weinen und sah ihn skeptisch an. Er runzelte die Stirn. Was meinte der Alte? Was für eine Vorstellung!
„Doch, doch“ sagte dieser „Es gehört alles zusammen. Meer und Sonne, wie auch Leben und Tod, Freude und Leid, Gut und Böse. Es ist alles Eins. Du spürst in der Liebe Schmerz und du spürst im Schmerz Liebe. Es ist nur eine andere Form der gleichen Sache.“
Mittlerweile war es dunkel geworden, der Feuerball war versunken und die ersten Sterne blinkten am Himmel. Sie sahen eine Sternschnuppe. „Wünsch dir etwas.“ sagte der Alte. Nils überlegte. Sollte er seine Mutter…? Unmöglich! Sollte er… konnte er dem Mann vertrauen? Wenn er dem Mann glaubte, wäre seine Mutter nicht fort, dann wäre sie nur woanders … dann wäre alles… Er zögerte, schaute auf das dunkle Meer, die Sterne, die Mondsichel und fühlte sich mit einem Male ein klein wenig wohl.
Den Wunsch hob er sich auf für ein nächstes Mal.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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