Neben der Spur (3) - Kalte Angst

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~ * ~ * ~ * ~ * ~ Kalte Angst [1] ~ * ~ * ~ * ~ * ~

In einem Schub neu aufkeimender Hoffnung schaltete Rieke schließlich am Dienstagmorgen um 11.00 Uhr entschlossen den Computer ein, um ihre E-Mails abzurufen. Sie war sicher, dass das Ganze mittlerweile aufgeklärt in ihrem Postfach ruhte.
Doch auch fünf Tage nach dem ausgefallenen Termin fand sie keine Nachricht von lotti.leidenicht@seelennet.de. Die Therapeutin hatte auf die mitgeteilten Sorgen um ihr Wohlergehen nicht geantwortet; und das, obwohl sie doch mit einem transportablen Laptop arbeitete, den sie nach Beendigung der täglichen Behandlungen mit Sicherheit nicht in der Praxis ließ.

Die Panik breitete sich von den Füßen her in Zeitlupe im ganzen Körper aus, um noch den letzten Rest des Lebens zu ersticken. Rieke sank in sich zusammen. Ihr war so elend, dass sie nicht mal weinen konnte. Das hier war das Ende. Es war jetzt mehr als unwahrscheinlich, dass Frau Leidenicht noch lebte. Selbst wenn sie letzten Donnerstag nicht mehr dazu gekommen war, sich noch zu melden und am Freitag frei hatte, so durfte ein Patient aber heute doch allerspätestens erwarten können, dass eine Nachfrage nach dem Verbleib der Therapeutin zügig eine Antwort fand; zumal Frau Leidenicht von Riekes Trauma durch den unprofessionellen Kontakt- und Therapieabbruch durch die damalige Therapeutin wusste, der sich jetzt zum fünften Male näherte. Exakt dieses Trauma war doch der Grund für die aufgenommene Behandlung. Ließ man seelisch kranke Menschen angesichts solcher Vorerfahrungen über den eigenen Verbleib im Ungewissen und setzte man sie der Gefahr einer Re-Traumatisierung aus, wenn man sich noch melden konnte?

Rieke starrte den PC an. Das hier war unmenschlich. Niemand konnte abverlangen, dass ein Patient, der vor fünf Tagen vor verschlossener Tür gestanden hatte, sein Leben einfach weiterlebte und ihm der Therapeut egal zu sein hatte, selbst wenn er tagelang verschwunden blieb. Das hier war schließlich auch eine Form der Partnerschaft; etwas, das über Monate gewachsen war, ob man wollte oder nicht.

Auch wenn diese Verbindung zueinander anderen Gesetzen folgte und man sich nur einmal in der Woche für eine knappe Stunde traf, so war sie doch ein enges Arbeitsbündnis zweier Menschen, das dem Verhältnis von Kollegen ähnlich war. Man konnte den Patienten nicht mit Null Information im Ungewissen über etwas lassen, das zweifellos passiert war.
Und deshalb ging das hier eindeutig gar nicht! Es gab in einer psychotherapeutischen Behandlung verdammt nochmal immer zwei Parteien, die sich Sorgen machten.

Während Psychotherapeuten aber jahrelang Strategien professioneller Abgrenzung eingeübt hatten und außerdem die Telefonnummer der eigenen Patienten kannten, so dass sie nachfragen konnten, ob etwas passiert war oder der Termin einfach nur vergessen worden war, verfügten diese über nichts dergleichen. Und dabei hatten sie als Folge ihrer schwerwiegenden Erkrankung die weitaus schlechteren Nerven und waren erst dabei, die Handhabung von Ängsten zu erlernen. Vor allem aber hatten sie jenseits der Praxisnummer keine Kenntnis einer Telefonnummer ihres Therapeuten, unter der sie nachfragen konnten, wenn etwas eklatant schief gegangen war.
Sie konnten nichts, weil sie nichts durften.
Der erforderliche und erlaubte Schutz der Privatsphäre Behandelnder besaß eine weit höhere Priorität, als das Wohlergehen des kranken Menschen; und in Riekes Fall führte diese ungleiche Verteilung der Rechte und der Positionen mit fortschreitender Zeit langsam aber sicher in die befürchtete Re-Traumatisierung.

„Sie waren schon immer zu sehr auf der menschlichen Ebene …“


Nein! Wenn Rieke an diesem aktuellen Vorfall eines deutlich wurde, dann dass es nicht die Voraussetzung einer freundschaftlichen Zuneigung brauchte, um sich in der Besorgnis um den eigenen Therapeuten zu zerreiben.
Das hier war eine urmenschliche Sorge um das Wohlergehen eines anderen, mit dem man ein sehr wesentliches Ziel definiert hatte, auf das man nun seit Monaten gemeinsam hinarbeitete:

auf die Genesung der erkrankten Seele.

Und deshalb war es Rieke mittlerweile Scheißegal, was andere darüber dachten, dass es ihr immer schlechter ging, „nur“ weil ihre Psychotherapeutin verschwunden war und blieb.
Diese Strukturen waren krank und sie machten krank und vor allem retraumatisierten sie, weil niemand Rieke sagte, was sie machen konnte und wohin sie gehen durfte, damit sie aufgefangen wurde, während sie vertraglich an ihre Therapie gebunden war.

Rieke konnte nichts anderes tun, als zu warten und alles andere, was sie tun konnte, war - WARTEN.

Mit wem konnte Rieke reden, um nicht erdrückt zu werden?
Wo gab es jemanden, an dem sie diese psychische Belastung von sich abreiben konnte, wie an der Rinde eines alten Baumes?

Frau Leidenicht hatte nie mit ihr besprochen, was sie tun konnte und wohin sie gehen durfte, wenn sie einmal durch eine Krankheit ausfiel. Rieke fühlte sich unendlich hilflos.

Hilflos, wie ein kleines Kind.

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© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, November 2013

Anm.: Die Namen der handelnden Personen sind frei gewählt. Auch die verwendeten Fotografien stellen keinen Bezug zwischen der dargestellten Handlung und realen Orten her.

Folge 1 von "Neben der Spur" beginnt hier:
http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/neben-der-spur-wenn-dem-psychotherapeuten-etwas-zustoesst-d362359.html

Folge 2 gibt es hier hier:
http://www.lokalkompass.de/bochum/leute/neben-der-spur-2-quaelende-tage-d367879.html

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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