Netzwerke zwo – Spinnereien

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Es war Dienstag, als die Trauer in vier Worten vom Himmel fiel:
„Meine Spinne ist ausgezogen.“
„Was?“
Ich war aufrichtig bestürzt über die Worte des Größten der Familie, der das Computerzimmer betreten hatte, um die neuesten Nachrichten des Tages zu verkünden.
„Ja“, bestätigte er. „Sie hat ihr Netz eingepackt und ist gegangen.“

Auch wenn der Gedanke an eine Spinne, die entschlossen ihr Netz einrollte, um eilig das Haus zu verlassen, zunächst durchaus Heiterkeit auslöste, machte sich ein dicker Klumpen Traurigkeit in den Mägen der vom Verlust betroffenen Personen breit. Schließlich hatte das kleine Tier mit seinem Einzug eine Unmenge Vertrauen im Gepäck gehabt und war in den drei Wochen seiner Anwesenheit doch irgendwie zu einem Mitglied der Familie geworden.

Sie war zwei Tage vor dem Größten der Familie eingetroffen, der im Rahmen einer Chorwoche das Dirigieren lernen wollte, um ein großer Dirigent und Chorleiter zu werden. Die Spinne bemerkten wir beim Blumengießen.
„Der Große hat ein Spinnennetz am Fenster“, so die Mitteilung des Vaters der Familie.
„Außen? Oder innen?“ Meine Frage war der Unvollständigkeit der überbrachten Mitteilung geschuldet.
„Innen“, vervollständigte der Gefragte die geografischen Angaben zur Netzanordnung.
Mit den Gedanken nun langsam bei der Sache fügte ich dem harmonischen Gespräch ein wenig aufgeregtes, nüchtern feststellendes „Och“ hinzu und beschloss nachzusehen. Und tatsächlich. Zwischen den Fensterrahmen und dem üppigen Laub der Zitronenpelargonie war ein großes Netz aufgespannt; und zwar nicht außen, wie es sich gehört hätte, sondern innen. Im Zentrum dieses, in Höhe unserer Köpfe entfalteten imposanten Kunstwerks hing die Künstlerin persönlich: eine Kreuzspinne. Sie musste sich vertan haben. Das hier konnte nichts werden. Wir ließen sie in Ruhe und warteten, wie sich der Größte der Familie zu dieser versponnenen häuslichen Einrichtung positionieren würde.

Der Größte der Familie, der sich sehr für nachhaltige Entwicklung interessierte, zeigte sich bei seiner Rückkehr ausgesprochen interessiert an der unerwarteten Versuchsanordnung. Er war nicht mehr allein in seinem Zimmer und hatte jemanden, nach dem er schauen und für dessen Wohl er sorgen konnte. Das Tier durfte bleiben und stand fortan unter ständiger Beobachtung des Größten der Familie.

„Meine Spinne hat eine Fliege gefangen“, verkündete er eines Tages die frohe Botschaft. Ich war verblüfft. Meine Freude war ehrlich. Ganz so dumm war diese Spinne also offensichtlich nicht. Auch wenn es sich nur um eine dieser kleinen Fruchtfliegen handelte, die ihr auf den Leim gegangen war, schien ihr Konzept doch aufzugehen. Das Ergebnis brachte den Größten der Familie in Aktion. Er behielt die Zeiten und den Netzinhalt im Auge und fing an, die Fruchtfliegen zu fangen, die sich über Sommer in der Küche selber züchteten, ob man das wollte oder nicht. In der Küche gab es also immer welche und wenn bislang jemand gedacht hatte, man könne Fruchtfliegen nicht fangen, so belehrte der Größte der Familie diese Denker eines Besseren. Er nahm ein Glas, fegte es mit seinen langen Dirigentenarmen entschlossen durch die Luft, drückte einen Zettel drauf und Freilassing lag ab sofort im Osten an seiner Fensterscheibe. Die kleinen Fliegen hatten keine Chance. Sie gingen der Dicken unweigerlich ins Netz. So dümpelten die Kreuzspinne und die Familie der Kreuzspinne zufrieden im Netz des Lebens, bis…

„Meine Spinne hat eine Wespe eingepackt.“ Der Größte der Familie wurde sichtlich größer, als er eines Samstagmittags sehr aufrechten Schrittes in die Küche trat, um den Raum leicht irritiert mit dieser Neuigkeit zu füllen.
„Nein!“ entfuhr mir die Verblüffung schneller, als ich sie kontrollieren konnte. „Etwa die, die sich gerade so hartnäckig für meinen Pflaumenkuchen interessiert hat und schon so träge war? Da ist der Weg, den sie genommen hat, ja wohl verkehrt gewesen.“

Ich beschloss auf der Stelle, die Meldung in Augenschein zu nehmen und wahrhaftig: die Wespe war kunstvoll eingepackt wie ein Geschenk. Vor unseren Augen hing ein zwar wenig geschmackvolles, aber formschönes, länglich rundes Beige, dessen sorgfältig eingewickelter Inhalt nur noch an den Streifen des Hinterleibs und den sehr steif und eng anliegenden Fühlern zu erkennen war. Gemütlich war das sicher nicht. Dem Tod schien das egal zu sein.

Als die Verblüffung sich berappelt und das Päckchen von allen Seiten in Augenschein genommen hatte, brachte sie die Kamera zum Einsatz. Das hier war der Tag des Fotografen. Wann bekam man schon einmal in Augenhöhe ein solches Schauspiel der Natur zu sehen? Die beiden wurden gegen ihren Willen in Vertrag genommen und mehrfach abgelichtet. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte das Geschenk seinen Zweck dann aber offenbar erfüllt:
„Meine Spinne hat die Wespe wieder ausgepackt“, trat der Größte der Familie mit der nächsten Nachricht in die Küche. Und weiß Gott, die Hülle war entfernt und die Wespe glänzte im Licht der Deckenlampe wie eine Speckschwarte. Die Kreuzspinne hatte Messer und Gabel gewetzt und die Mahlzeit auf Hochglanz poliert. Nun begab sie sich im Blitzlicht der Kamera an den Verzehr.

Am nächsten Morgen hing die Künstlerin wie üblich im Zentrum ihres Werkes. Sie hatte augenscheinlich zugenommen. Die nicht genießbaren Reste dessen, was mal eine Wespe gewesen war, hatte sie kurzerhand in das Blattwerk der Zitronenpelargonie entsorgt.
„Na, da wird sie jetzt wohl erst mal satt sein. Das dürfte eine Zeit lang reichen“, so meine Ansicht dessen, was ich sah. Dass sie auch gleich den Auszug plante und ihr Netz mitnehmen würde, war eigentlich so nicht gedacht. Nur einen Faden hatte sie dagelassen. Zur Erinnerung. Ich staunte. War das hier, die ressourcenschonende Verwertung dessen, was man sein Eigen nannte, diese Ent-Wicklung des Netzes, wohl die nachhaltige Entwicklung, die wir Menschen erst noch wieder mühsam lernen mussten?

„Und wo ist sie jetzt?“ Die Frage des Größten der Familie ließ sich nicht beantworten. Vielleicht hatte sie sich irgendwo verkrochen. Vielleicht war sie aber auch durch das Fenster geflüchtet, durch das sie eingestiegen war. Es ist jetzt jedenfalls spürbar leer bei uns geworden. Irgendetwas fehlt. Ob wir die Spinne wohl noch einmal wiedersehen werden? Naja, zumindest ist jetzt Fensterputzen wieder möglich. Damit wir auch mal wieder einen Blick auf das Leben draußen werfen können.

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, September 2015

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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