"Weiter so" darf es nicht geben - Interview mit Axel Schäfer zum Brexit

Der Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und aktuell zuständig für die Bereiche Angelegenheiten der Europäischen Union sowie Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. | Foto: Molatta
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Für den Bundestagsabgeordneten Axel Schäfer ist Europa eine der zentralen Handlungsebenen deutscher Politik und ein roter Faden, der sich durch sein gesamtes politisches Leben zieht. Von daher war die Bestürzung über das Votum für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU erst einmal groß. Im Interview mit dem Stadtspiegel gibt er eine Einschätzung zum Thema "Brexit". Das Interview wurde geführt am Donnerstag, 30. Juni.

Herr Schäfer, ist gut eine Woche nach dem Brexit der erste Schock verdaut?
Axel Schäfer:
Wir alle hätten uns sicherlich einen anderen Ausgang gewünscht. Aber wir müssen des Ergebnis akzeptieren. Besonders traurig finde ich, dass die junge Generation in Großbritannien mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib gestimmt hat und nun mit den negativen Folgen außerhalb der EU leben muss. Mich macht es fassungslos, wie prominente Brexit-Befürworter wie Nigel Farage von UKIP und der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson nach dem Referendum agiert haben. Es zeigt sich nun, dass beide die Wählerinnen und Wähler belogen haben und keinen Plan für die Zukunft des Landes haben. Die Austrittsverhandlungen müssen schnellstmöglich beginnen, um Klarheit zu schaffen und die EU handlungsfähig zu halten.

Sie sind Europa-Experte, haben fünf Jahre im Europäischen Parlament gesessen und beste Kontakte ins britische Königreich. Wo sehen Sie die Gründe für den Ausgang dieses Volksentscheids?
Axel Schäfer:
In den vergangenen Jahren ist von Seiten der regierenden Konservativen und einem Großteil der britischen Presse negativ und mit Unwahrheiten über die EU und ihre Institutionen geredet worden. Jetzt muss man sich nicht wundern, wenn die Bevölkerung dies irgendwann glaubt. David Cameron wollte mit dem Referendum die Europagegner in seiner eigenen Partei ruhigstellen. Doch erreicht hat er das Gegenteil. Er hat nicht nur seine Partei gespalten, sondern das gesamte Land.
Wir alle müssen sorgfältiger mit den europäischen Institutionen umgehen. Wer ihnen beliebig die Verantwortung für Probleme zuschiebt, etwa um von eigenen, innerstaatlichen Versäumnissen abzulenken, stärkt die Europa-Gegner und gefährdet die Akzeptanz der EU als Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft. Klischees, falsche Behauptungen, Irreleitung und Hetze müssen wir uns noch energischer entgegenstellen. Die sonst stattfindende schleichende Verzerrung der Wirklichkeit bereitet die Basis dafür, dass die Vernunft und die Fakten auf der Strecke bleiben.

Auch Bochums Partnerstadt Sheffield hat für den Brexit gestimmt. Sie waren vor zwei Jahren mit einer Bochumer Delegation in Sheffield. Wie war damals die Stimmung und haben Sie Reaktionen aus Sheffield bekommen?
Axel Schäfer:
Auch in Sheffield hat sich leider niemand eine Unterstützung von Pro-Europäern aus Bochum in der Brexit-Kampagne gewünscht. Das Interesse an einer Zusammenarbeit ist leider zurückgegangen. Vor zwei Jahren waren wir beim Besuch in England noch optimistischer, heute sind wir eher traurig.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat in einer ersten Reaktion von einem "Weckruf für Europa" gesprochen. Hat Europa denn in den letzten Jahren geschlafen?
Axel Schäfer:
Martin Schulz hat völlig Recht. Ein „Weiter so“ darf es nicht mehr geben. Zu viel steht auf dem Spiel. Nach sieben Jahren Wachstums- und Beschäftigungskrise, die Europa auseinandergetrieben hat, brauchen wir dringend eine wirtschaftspolitische Wende. Denn die ungelösten Aufgaben entfernen und entfremden die Menschen von Europa seit Jahren. Die von konservativen und christdemokratischen Politikrezepten dominierte Rettungspolitik hat uns massenhafte Jugendarbeitslosigkeit, kaum Wachstum und Schulden ohne Ausweg geliefert. Der anti-europäische Nationalismus hat auch darin seine Ursachen.

Kann die EU jetzt weitermachen wie bisher? Braucht es nicht einen Reformprozess?
Axel Schäfer:
Wir wollen ein gerechteres Europa, das die Menschen wieder begeistert. Steuerbetrug und Steuerhinterziehung müssen wir überall konsequent bekämpfen. Vielfalt, Toleranz und Gleichberechtigung müssen wir gegen die radikalen Rechten verteidigen. Humanität in der Flüchtlingskrise müssen wir bewahren. Ein Europa, das seine Werte durch praktische Taten zeigt, genießt Respekt.

Welches Europa brauchen wir Ihrer Meinung nach? Muss es überall ein "mehr Europa" sein oder macht es nicht doch Sinn, einige Brüsseler Kompetenzen wieder an die Nationalstaaten zurückzugeben?
Axel Schäfer:
Europa muss sich auf die großen Themen konzentrieren. Das heißt, nach außen mit einer gemeinsamen Stimme sprechen, Fluchtursachen bekämpfen und ein europäisches Einwanderungsrecht schaffen, im Inneren mehr Gerechtigkeit und mehr Sicherheit schaffen und den Grundrechteschutz auch im digitalen Zeitalter stärken. Wir wollen ein besseres Europas. Nicht einfach nur „mehr Europa“.

Ist es nicht fatal, dass jetzt ein Signal von denjenigen gesetzt wurde, die von der Rückbesinnung auf den Nationalstaat träumen und bessere Chancen für ihr Land sehen, wenn es sich abschottet und sich in nationalem Egoismus verliert? Und fürchten Sie einen Domino-Effekt?
Axel Schäfer:
Die großen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nicht mehr nationalstaatlich lösen. Ein Land steht eben nicht vor der Frage, ob es mehr Einfluss und Souveränität als selbständige Nation hat, sondern ob es überhaupt noch Gestaltungsmöglichkeiten in einer globalisierten Welt hat. Das geht nur gemeinsam mit starken Partnern in der EU.
Die EU ist eben nicht nur der Gegenstand für Spott, Häme und Überheblichkeit, so wie viele „leave“-Vertreter polemisiert haben. Sie ist vielmehr die Basis für den Wohlstand ihrer Mitgliedstaaten, öffnet Konsumenten und Unternehmern einen enormen Binnenmarkt und gibt den Menschen die Freiheit, zu leben, zu arbeiten oder ihren Ruhestand zu genießen, wo immer sie wollen. Alle diese und weitere Vorteile stehen mit einem Austritt zur Disposition. Diesen Realitätsschock wird bald auch Großbritannien erleben.
Bei den Austrittsverhandlungen werden wir darauf achten, dass dem Vereinigten Königreich keine Mitgliedschaft „light“ mit bevorzugtem Zugang zum Binnenmarkt ohne die dazugehörigen Pflichten gewährt wird. Wer weiterhin vom gemeinsamen Markt profitieren möchte, muss alle vier Grundfreiheiten – auch die Personenfreizügigkeit - akzeptieren und weiterhin in den EU-Haushalt einzahlen, dann allerdings ohne Mitspracherecht in den EU-Institutionen. Der prognostizierte wirtschaftliche Einbruch in Großbritannien, die Planlosigkeit der Londoner Führung und die dramatische Abwertung des Pfundes sind schmerzlich für die Menschen in Großbritannien. Sie könnten aber auch heilsam für mögliche Nachahmer sein.

Kann man an einer Stadt wie Bochum konkret den "Europagedanken" ausmachen?
Axel Schäfer:
Europa beginnt vor Ort: Unser Stadtrat, Gewerkschaften, Hochschulen und Wirtschaft sowie viele Organisationen und Vereine sind sich einig, wie wichtig Europa als Gemeinschaft ist. Es gibt viel Positives von der EU für Bochum, z.B. Fördergelder in beträchtlicher Höhe für das neue Musikzentrum, aber auch den Schüler- und Studentenaustausch. Ko-operationen auf zahlreichen Feldern und natürlich der ökonomische Nutzen durch hohe Exportanteile in unserer heimischen Wirtschaft zeigen die große Bedeutung eines friedlichen und offenen Europas für unsere Stadt. Axel Schäfer. Foto: Molatta
Ein „Weiter so“ darf es nicht mehr geben. Zu viel steht auf dem Spiel. Nach sieben Jahren Wachstums- und Beschäftigungskrise, die Europa auseinandergetrieben hat, brauchen wir dringend eine wirtschaftspolitische Wende.

Autor:

Andrea Schröder aus Bochum

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