Erlebnisse am Straßenrand

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Oder: Ist die Polizei korrupt?

Eine Betrachtung von Edgar Stötzer
(aus meinem Zyklus "Bulgarische Anekdoten")

Man hat schon viel gehört über die Polizei in diesem Land.
Man sollte dem Beamten ein Trinkgeld zustecken, wenn man wegen
Geschwindigkeitsüberschreitung oder anderer Delikte angehalten würde. Das wäre allemal noch billiger als die drastisch hohen Strafen zu bezahlen - waren zum Beispiel solche Aussagen.
Nun - ich habe es bisweilen miterlebt. Aber auch ganz anders...
Aber gehen wir einen großen Schritt zurück. Beginnen wir mit einem Erlebnis im noch sozialistischen Land Bulgarien:

Vetternwirtschaft

Ich war drei Tage und Nächte alleine, mit meinem klapprigen „Wartburg“ über Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien mit weit über 24 Stunden Zwangsstopp an der Donaufähre in Calafat, dem Fährhafen auf der rumänischen Seite, endlich hundemüde am Ziel in Lovetsch angekommen.
Mein Auto war schlammüberkrustet – wohl von den hervorragenden Straßen damals in Rumänien.
Ich wollte nur noch schlafen und mein damaliger Schwager bot sich an, das Fahrzeug zum Waschen zu bringen.
Einverstanden!
Ich wurde geweckt. Ein kleiner Unfall hätte sich ereignet. Der Schwager musste vor einem Kind stoppen, das unvermittelt zwischen zwei parkenden Autos herausrannte.
Dabei war ihm ein nachfolgender Wagen aufgefahren.
Kein Drama – dem Kind war gottlob nichts passiert, mein Wagen hatte eine kaputte Schlussleuchte und ein eingedelltes Hinterteil. Aber der andere Fahrer lamentierte.
War nicht bereit, für den Schaden aufzukommen. Sträubte und wehrte sich. Handys gab es noch keine. Also telefonierte Assen mit der Polizei aus der Wohnung. Der andere hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.
Die Rückleuchte war schon mit einigen Lagen Tesa-Film notdürftig repariert. Der
Deckel des Kofferraums konnte geschlossen werden. Das Fahrzeug war also
fahrbereit.
Wir wurden zum örtlichen Polizeipräsidium bestellt.
Befragung. Wer ist gefahren, warum - etc... Akoholtest: „Sie haben getrunken!“
„Ich habe keinen Schluck Alkohol getrunken“, beteuert Assen.
„Aber das Gerät zeigt einen Wert an.“ Das Röhrchen wurde leicht blau. „Haben sie irgend etwas gegessen, was dazu führen könnte?“
„Zu Mittag habe ich einige Stücke Honigmelone gegessen.“
„Aha, da haben wir es ja. Ich stelle Alkohol fest. Sind sie mit einer Blutprobe
einverstanden?“
„Ich bin einverstanden, weil ich absolut nichts getrunken habe.“
Jetzt wurde es mir aber langsam zu bunt:
„Wir sind hierher gekommen, weil wir für die Versicherung ein Protokoll benötigen.
Außerdem wo ist der andere Fahrer? Warum wird der nicht einbestellt? Er ist doch aufgefahren und nicht mein Schwager!“
„Sie haben hier gar nichts zu sagen! Wer sind sie?“
Das ist mein Fahrzeug und ich benötige für die Versicherung zu Hause in
Deutschland ein polizeiliches Protokoll über den Unfall. Nichts weiter. Das Fahrzeug ist noch fahrbereit und kann hier sowieso nicht repariert werden.“
„Ob das Fahrzeug noch fahrbereit ist, bestimmen wir!“
„OK, dann prüfen sie das doch bitte!“
„Zunächst stelle ich fest, dass Herr Assen gesetzeswidrig ein fremdes Fahrzeug
benutzt hat. Das ist strafbar! Somit hat ER den Unfall verursacht“
„Aha - das glaube ich doch wohl nicht“ sage ich etwas lauter „aber wenn der Fahrer das Leben eines Kindes rettet, indem er eine Vollbremsung ausführt, und der Nachfolger auffährt, weil er möglicherweise geschlafen hat, so ist das legal“?
„Sie halten den Mund, sonst lasse ich sie festnehmen!“
„OK, Assen, lass uns gehen. Ich verzichte auf den Schadenersatz!“
„Wegen der illegalen Benutzung eines fremden Fahrzeugs hören sie noch von uns!“
rief der Beamte noch meinem Schwager nach.
Wir hatten einen gemeinsamen Freund, der war wegen seiner Leidenschaft „Rallye fahren“ und Vorsitzender des örtlichen Rallyeclubs mit einigen Polizeibeamten aus den oberen Etagen, auch dem Polizeichef gut bekannt oder befreundet.
Ihn suchten wir am Abend auf und erzählten die ganze Geschichte.
„Ich regele das!“ sagte Simon.
Am nächsten Mittag rief er bereits an: „Fahrt zur Versicherung, dort wartet ein
Angestellter auf Euch. Der Schaden wird geregelt!“
Später stellte sich heraus, dass der andere Fahrer wohl betrunken war, aber
offensichtlich einen besseren Draht zu dem Beamten hatte und deshalb gar nicht erst erscheinen musste.
Dass das Führen fremder Fahrzeuge ohne Anwesenheit des Eigentümers damals tatsächlich verboten war, kam dem Staatsdiener wohl gelegen, die Schuld auf meinen Schwager abzuwälzen und seinen Günstling zu schützen.
Aber auch wegen unerlaubtem Führens eines Kfz kam später keine Anzeige mehr.
Nun - das war jedoch noch tief im Sozialismus – etwa 1979.

Willkür

Es war unmittelbar nach der Wende. Osteuropa befand sich in einem Zustand des
Chaos. Die sozialistischen Strukturen waren weitgehend zerschlagen. Für die
Menschen im ehemaligen sozialistischen Lager begann eine neue Ära.
Was diese Ära mit sich brachte waren enorme Arbeitslosigkeit, Verwirrung und Angst
vor der Zukunft, bittere Armut.
Die alten Kader im Staatsapparat der ehemaligen sozialistischen Länder saßen aber
noch auf ihren Posten. So standen Korruption und Vetternwirtschaft immer noch -
oder sogar mehr als vorher, in voller Blüte.
Grenzorgane und Polizei in den Ländern östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs
machten ihrem Frust durch Repressalien insbesondere gegenüber den, in ihren
Augen wohlhabenden Bürgern Westeuropas deutlich Luft und wer wollte sie daran hindern?
Waren doch die Vorgesetzten ebenso noch vom alten Schrot und Korn:
In ihren Köpfen herrschte noch immer die Ideologie vom Klassenfeind aus dem
Westen.
Man wusste aber auch nicht, wie man sich den Repressalien stellen sollte. Der Eine meinte, dass ein DM-Schein mit dem Bildnis von Johann Balthasar Neumann im Pass eingelegt, die Beamten schneller arbeiten lassen würde. Andere sagten, dass dann die Gefahr bestünde, wegen versuchter Bestechung fest genommen zu werden.
Die Repressalien bestanden mitunter in stundenlangem Warten an einer Grenze, bis man abgefertigt wurde, bis hin zu Einfuhrzöllen in schwindelerregender Höhe, offenbar willkürlich festgelegt oder menschenunwürdigem „Filzen“, wenn einer der Beamten sich gerade ärgerte.
Es muss so 1992 gewesen sein. Besuch von bulgarischen Freunden war
angekündigt.
Sie waren im neuen Bulgarien Unternehmer geworden, verdienten trotz der
galoppierenden Inflation recht gut mit einigen neuartigen Produkten auf dem
Binnenmarkt und wollten sich ein gebrauchtes Auto zulegen.
Der Markt mit Gebrauchtwagen boomte zu dieser Zeit, besonders im Osten von
Deutschland, ganz besonders. War man doch nach 40 Jahren immer gleich
gebliebener Modelle ausgehungert nach einem vernünftigen Fahrzeug. Die
glorreiche „Trabbi-Ära“ neigte sich dem Ende zu.
An jeder Ecke, auf den kleinsten Freiflächen ließen sich Gebrauchtwagenhändler aus dem Westen von Deutschland nieder. Dass darunter auch eine ganze Anzahl von unseriösen oder auch sehr zwielichtigen Gestalten waren, kann sich der verehrte Leser sicher vorstellen.
Insbesondere in Bulgarien, wo das Auto bisher immer als ein Statussymbol
angesehen wurde, war der Hunger nach einem „deutschen Auto“ besonders hoch.
Nie zuvor in meinem Leben hatte ich in einer Stadt so viele Mercedes’ gesehen, wie damals in Sofia. Dass es sich dabei überwiegend um alte Wracks handelte, für die der Händler im Regelfall noch die Verschrottung hätte bezahlen müssen, entging meinen Augen nicht. Stolz fuhren die Menschen ihre Nobelkarossen, für die sie oft ihre letzten Ersparnisse hergaben und sich mit Krediten finanziell ruinierten, durch die hoffnungslos verstopften Straßen der Hauptstadt, parkten sie wild, nicht selten sogar quer auf dem Bürgersteig und besonders gerne in ohnehin schon überfüllten Straßenzügen, wo besonders viele Menschen gingen, damit man auch ja gesehen wurde.
Es gab damals regelrechte Händlerringe, die an den Schrottkisten neben den
Händlern in Deutschland richtig gut verdienten. Man konnte fast von einer Auto-Mafia sprechen, wie sie heute noch in Russland und Polen ihr Unwesen treibt.
So ist man in den alten Bundesländern damals aber auf äußerst elegante Weise
einen Riesenschrottberg losgeworden und ganz nebenbei wurde auch noch die
Konjunktur angekurbelt...

Doch zurück zum Anfang:
Unsere Freunde kamen mit einem alten Mazda.
Nach langem Suchen nach dem passenden Fahrzeug entschieden sie sich für einen VW Corrado von einem Autohaus.
Jetzt wurde die Rückreise geplant. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit einer Freundin von uns und dem bulgarischen Ehepaar beschlossen wir, dass ich den Mazda zurück nach Bulgarien fahren sollte. Ich hatte zufällig gerade Urlaub und das war eine gute Gelegenheit kostengünstig eine Kurzreise dorthin zu machen. Da ich aber nicht alleine im Wagen fahren wollte, fragte ich kurzerhand unsere Freundin, ob sie denn Lust auf ein Abenteuer hätte.
Christa hatte Lust. Auch hatte sie einige Tage Resturlaub. Meine damalige Frau
konnte selbst nicht mitkommen, da sie erst kurz vorher ein Geschäft eröffnet hatte.

Ich überspringe nun die Schilderung der hindernisreichen Fahrt bis zur bulgarischen
Grenze, wo unterwegs unseren bulgarischen Freunden das komplette Vorderteil des
Corrado über Nacht auf dem Parkplatz eines Hotels in Bratislava abmontiert und
gestohlen wurde. Das wäre noch einmal genügend Stoff für eine weitere Geschichte.

Wir mussten demnach die Reise allein weiter machen. Eine notdürftige Erklärung, handgeschrieben vom Fahrzeughalter, hatten wir vorausschauend vorbereitet.
Nach der Donauüberquerung von Calafat nach Vidin standen wir auf der
bulgarischen Seite erst einmal über 9 Stunden, bevor die „Grenzorgane“ sich
anschickten, die Einreisenden abzufertigen.
Hunderte von ausreisenden Fahrzeugen wurden den Tag über abgefertigt. Auf
Nachfrage sagte man uns, dass sie kein Personal hätten, um auch die einreisenden Fahrzeuge zu bedienen.
In der, mehrere Kilometer langen Warteschlange gab es auch eine Reihe von
einheimischen LKW’s, mit deren Fahrern wir uns in der langen Zeit befreundeten. Sie teilten ihr Wasser mit uns und wir picknickten zusammen am Straßenrand, aßen Schafkäse, Tomaten und Gurken sowie Brot von Zeitungspapier.
Plötzlich kam Bewegung in die Fahrzeugschlange. Man hatte auf der Seite der
einreisenden Fahrzeuge am Abend, da die Fähre um 21,00 Uhr schloss, schließlich begonnen, abzufertigen. Hurra!
Endlich waren wir an der Reihe.
Zunächst wie in sozialistischen Zeiten: „Kofferraum öffnen“! Führen sie Waffen oder Munition mit? Haben sie etwas zu verzollen? Wie viel Benzin haben sie außer der Tankfüllung dabei“? Und so weiter...
Dann in der Abfertigungshalle Papiere vorzeigen. Die ganze Prozedur...
Ein fetter, behäbiger Grenzbeamter:
„Was ist das? Du bist Deutscher und sprichst bulgarisch? Wieso führst Du ein
bulgarisches Fahrzeug?“
Geduldig erklärte ich die Sachlage und zeigte das Schreiben von Vlado, dem
Eigentümer.
„Der Wisch hat keinerlei Bedeutung. Es gehört eine notarielle Beglaubigung dazu!“
Er knallte mir das formlose Schreiben von Vlado auf die Theke.
Noch einmal wiederholte ich, dass der Fahrzeughalter in Bratislava zurück bleiben
musste, wegen der erwähnten Gründe. Er hätte erst in einigen Tagen das Fahrzeug dort reparieren können, da zunächst die Ersatzteile beschafft werden mussten.
„Dann bleibt das Auto hier stehen. Vorerst beschlagnahmt! Zu Fuß kannst Du
einreisen. Ich kann Dich nicht mit einem fremden Fahrzeug einreisen lassen“!
Langes Kopfwiegen.
„Ts, ts, ts... ein Deutscher, der so gut bulgarisch spricht. Das gibt es nicht – hier
stimmt doch etwas nicht. Wer ist der Nächste?“
„Ich habe kein anderes Anliegen, als das Auto mit Sofioter Kennzeichen und den
dazu gehörigen Papieren zu seinem Besitzer nach Hause zu bringen. Ich bin kein Händler oder Schmuggler. Fünf Grenzen habe ich unbehelligt überquert und jetzt wo ich endlich so gut wie am Ziel bin, gibt es solche Probleme?“
Einer der LKW-Fahrer flüsterte mir zu: „Merkst du nicht, dass der auf ein Trinkgeld spekuliert?“
Dafür hatte ich jetzt nach dem Auftritt des Dicken keinen Nerv mehr.
Dieser forderte wieder den nächsten auf, an den Schalter zu kommen
„Ich bleibe jetzt hier stehen, bis ich vernünftig abgefertigt werde! Ich bin Bürger der Bundesrepublik Deutschland und verlange korrekt behandelt zu werden!“ Jetzt kam zum ersten mal richtiger Stolz bei mir auf, der mir regelrecht Flügel wachsen ließ. Stolz darüber, dass auch ich mich nun, zwei Jahre nach der Wende als „richtiger“ Deutscher fühlen durfte.
Nun fingen alle umstehenden Fahrer an, den Beamten verbal zu attackieren:
„Wenn es nicht gleich weiter geht, drücken wir Dich mitsamt deinem Stempelkram an die Wand. Wir sind genug und können das schaffen. Wir warten bereits über neun Stunden hier auf Abfertigung! Wir sind müde und wollen endlich nach Hause. Der Mann hat doch nichts weiter getan, als ein Fahrzeug rechtmäßig nach Bulgarien zurück zu führen! Willst wohl Trinkgeld oder was?“
Das hatte offenbar Wirkung gezeigt.
Diese Schilderung ist beileibe nur eine Kurzdarstellung. In Wirklichkeit dauerte das Ganze viel länger.
„Gut, ich lasse Dich einreisen. Ich mache einen Vermerk, dass du zu Fuß eingereist bist. Wenn Du unterwegs in eine Kontrolle kommst... Ich weiß nichts von einem
Fahrzeug. Das musst Du dann selbst regeln.“
Es war schon lange dunkel, denn wir hatten Oktober, als wir unsere Reise fortsetzen konnten. Christa, meine Kopilotin war schon ganz bleich vor Angst geworden. Sie hatte Hunger und quengelte, dass sie jetzt unbedingt was zu essen brauchte.
In völliger Dunkelheit – die Straßenbeleuchtungen von Vidin waren abgeschaltet, erreichten wir die Landstraße nach Sofia. Jedenfalls war ich der Meinung, dass wir richtig waren.
Das hört sich leichter an als es explizit gewesen ist. Fast alle Wegweiser und
Straßenschilder, soweit sie aus Metall bestanden waren von Schrottsammlern
abmontiert und irgendwo verkauft worden.
Die vorherrschende, allgemeine Armut nach der Wende zwang die Menschen
förmlich zu solchen kriminellen Handlungen. Es fehlten die Gullydeckel in den
Straßen, ein sehr gefährlicher Umstand, auf Straßenkreuzungen war man als
Ortsfremder orientierungslos wegen der fehlenden Beschilderung. Man wusste nicht ob man sich auf der Hauptstraße bewegte oder ob man die Vorfahrt beachten musste.
Erschwerend kam hinzu, dass sämtliche Ortschaften in völliger Dunkelheit lagen.
Man hatte gar kein Gefühl mehr für Himmelsrichtungen – es war einfach nur
stockfinster.
Nun meint man ja: OK wir sind ja als Kinder schließlich einmal Pioniere gewesen.
Und Soldat war ich auch. Dort hatte man gelernt, sich nach anderen Kriterien, wie
Sonne, Bäume, Sterne oder Mond zu orientieren. Was nützt uns dieses Wissen aber in völliger Finsternis? Der Himmel war bedeckt und es regnete in Strömen...
Kein Lichtschein von irgendeinem Dorf blinkte zu uns herüber. Denn die hatten alle Lampen aus Sparsamkeitsgründen gelöscht oder es gab gar keinen Strom.
Also in finsterer Nacht orientierungslos weiter fahren. Irgendwann kommt schon ein Dorf. Da gibt es ein Ortseingangsschild und man kann dann in der Karte nachsehen, wo man sich befindet... Wer eine solche Situation noch nicht erlebt hat, kann sich wahrscheinlich gar keine Vorstellung machen.
Ab und an kam uns mal ein LKW entgegen. Sonst nichts...
Dörfer durchfuhren wir eine ganze Anzahl. Aber auch alle Ortschilder waren
abmontiert und verscheuert worden. Keine Menschenseele in der Dunkelheit zu sehen, die man fragen könnte. Auch hinter den Fenstern in den Dörfern kein
Lichtschimmer. Es war gespenstisch. Wie in einem Horrorfilm. Mehrmals kam es mir vor, als hätte ich in einem Fenster im Scheinwerferlicht kurz ein menschliches Antlitz gesehen. Wenn ich anhielt, überkam Christa aber eine solche Angst, dass sie mich aufforderte, unverzüglich weiter zu fahren.
Irgendwann erschien in weiter Ferne plötzlich ein heller Lichtschein. Die
Lichtstrahlung erhellte sogar den Himmel über diesem Punkt.
Das Licht wurde gleißend hell und tat regelrecht in den Augen weh. Jetzt erkannten wir eine Tankstelle von LUKOIL, dem russischen Ölgiganten. Nagelneu, offenbar erst vor Kurzem eröffnet.
„Da gibt es was zu essen“. Christa frohlockte.

... Nee, das war wohl nichts. Gleißend hell erleuchtet aber weit und breit kein Personal zu sehen.
Wenigstens waren die Toiletten in einem Seitengebäude offen.
Dann weiter. Jetzt war ich so ziemlich sicher, dass wir uns auf der richtigen Route befanden und siehe da: Kaum hatten sich unsere Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt, hatten wir vor uns ein Anzahl von Verkaufsbuden auf beiden Seiten der Straße. Zwar nur spärlich beleuchtet, aber es duftete sofort verführerisch nach Gegrilltem.
Eine „Raststätte“.
Nach je einem Teller mit Kebabtscheta und wohlriechendem frischen Brot, dazu je ein Tomatensalat - die Tomaten dufteten ebenso verführerisch, wurde meine
Kopilotin jetzt wieder froh. Ich hingegen wurde nach der anstrengenden Fahrt und dem üppigen Mahl müde.
In der nächsten kleinen Stadt - wer kann noch wissen, wie sie hieß, hielt ich auf
einem größeren Platz an, um ein wenig zu schlummern. Wenigstens hier gab es eine trübe Funzel, die den Platz mühsam erhellte. Auch meine Begleiterin zog ihren Sitz zurück und wir bemühten uns beide um ein klein wenig Schlaf.
Kaum war ich ins Land der Träume hinüber geglitten, pochte jemand an das Fenster der Fahrertür. Zu Tode erschrocken musste ich mich erst mal eine Weile orientieren.
Draußen stand eine Gestalt. Ich erkannte nur Umrisse. Es dauerte noch eine Weile bis ich die Innenbeleuchtung einschalten konnte. Jetzt erkannte ich eine Uniform.
Oho, der Dorfsheriff.
Barsch forderte der Fahrzeugdokumente und Passport. Er beleuchtete diese mit
einer Taschenlampe, ging einmal um das Fahrzeug. Dann kam er zurück und fragte noch immer im barschen Ton: „Was machen sie hier“?
„Ich war müde und wollte ein wenig schlafen“! war meine Antwort.
Er kam nicht auf die Idee, nach dem Wagen zu fragen und wieso ich ein Deutscher... ein fremdes Auto...
„Warum haben sie kein Standlicht eingeschaltet“?
„Ich dachte hier unter der Laterne wäre das nicht nötig“.
„Wohin wollen sie“?
„Nach Sofia“!
Er reichte mir die Dokumente. Jetzt war ich froh, dass der Kamerad offensichtlich auch müde war und deshalb gar nicht weiter in den Pass gesehen hatte.
„Fahren sie bitte weiter“!
Das tat ich gerne. Ohnehin war ich jetzt hellwach.
Auf der Ringstraße von Sofia noch eine Polizeikontrolle. Die hatten sogar eine
regelrechte Straßensperre errichtet. Vor uns vier Fahrzeuge.
Wir kamen an die Reihe. Wieder ängstlich und erwartungsvoll: Wird das Fahrzeug jetzt beschlagnahmt? Irgendwie hatte ich das Gefühl, die suchen nach gestohlenen Autos. Das kann heiter werden...
„Passport bitte! Ah Deutscher. Wohin?“
„Nach Sofia“!
„In Ordnung – weiterfahren“!
Nach einer kurzen Strecke musste ich erst einmal anhalten. Wir hätten uns vorher beinahe in die Hosen gepinkelt.
Nur wenig später erreichten wir das Ziel. Es war gegen drei Uhr morgens. Vlado,
unser Freund hatte uns informiert, dass die Oma in der Wohnung ist und wir
jederzeit, Tag und Nacht klingeln könnten.
Nach unserem Schellen erschien Vlados Kopf über der Balkonbrüstung und fragte:
„Wo kommt ihr denn jetzt erst her?“
Es stellte sich heraus, dass sie einige Stunden nach uns ohne das Vorderteil des Corrado, d.h. ohne Stoßstange, Kühlergrill und ohne Blinkleuchten von Bratislava losgefahren waren. Jedoch über Serbien. So waren sie schon seit dem frühen Vormittag zu Hause.
Weil wir die damals berüchtigten Repressalien der Serben umgehen wollten, hatten wir uns für den Weg über Rumänien und die Donau entschieden, was sich im Nachhinein als der weniger vorteilhafte Weg erwies.

Nun noch eine ganz kleine Episode unsere Rückreise. Sie gehört zwar nicht zum
Thema, aber ich wollte sie nicht unerwähnt lassen:
Wir wollten mit BALKAN nach Leipzig fliegen.
Im Zentrum von Sofia befand sich das Büro der Fluggesellschaft.
Die Summe, welche die Flüge kosten sollten ist mir jetzt entfallen. Ich weiß noch,
dass wir mit einem Schuhkarton voller Banknoten, der einige Hunderttausend Leva enthielt, durch die Stadt marschierten, ständig auf der Hut, dass niemand uns verfolgte und uns vielleicht unseren Schatz abnahm.
Bei der damals grassierenden Armut, musste man durchaus auch mit so etwas
rechnen. Schließlich waren wir wie Touristen gekleidet und nicht schwer als solche zu erkennen.

Es geht auch freundlich

Etwa 2003.
Vor einer Biegung, im Gestrüpp verborgen, muss wohl ein Schild gestanden haben mit der 30 im roten Kreis.
Als ich die Biegung mit etwa 50 km/h genommen hatte sprang ein Polizist auf die
Straße und winkte mich an die Seite. Ungewöhnlich sachlich wurde ich aufgefordert, meine Papiere zu nehmen und zum Polizeifahrzeug zu kommen.
Ungewöhnlich, weil man aus Zeiten des sozialistischen Bulgarien gewohnt war, dass man sofort unfreundlich angeherrscht wurde.
Die Belehrung weswegen ich angehalten wurde, folgte. Ich konnte nur beteuern, das Schild nicht gesehen zu haben. „Weshalb besteht denn hier eine
Geschwindigkeitsbegrenzung“?
„Da vorn ist die Auffahrt zur Magistrale (2-spurige Schnellstraße), deshalb wird die Geschwindigkeit hier begrenzt“!
Jetzt wurden meine Papiere kontrolliert.
„Sie sind Deutscher?“
„Ja!“
„Aber wieso sprechen sie bulgarisch?“
Ich erklärte geduldig, wieso und weshalb. Es entspann sich ein kurzes Gespräch.
Woher ich komme und wohin ich denn so eilig wollte.
„Nach Sofia.“
„Tut mir Leid, aber ich muss Ihnen einen Eintrag in den Reisepass stempeln. Vor der Ausreise müssen Sie das Ordnungsgeld bei einer Polizeibehörde einzahlen, sonst wird man sie nicht ausreisen lassen“.
Jetzt kam meinerseits die Frage aller Fragen: „Aber meine Herren, kann man das
nicht anders regeln? Ich zahle die Strafe gleich hier bei Ihnen. Lassen wir das doch mit dem Stempel. Ich stehe ja wie ein gesuchter Verbrecher da, mit dem Eintrag im Pass. Wie teuer ist das denn?“
„Mein Herr“, meinte der eine Beamte, „wir nähern uns an Europa an. Bald wollen wir Mitglied der EU werden. So etwas ist jetzt nicht mehr möglich“!
„Kollege, gib mal bitte den Stempel rüber!“
Der Andere kramte in seinen Utensilien. Kramte und suchte. „Stempel habe ich -
aber kein Stempelkissen“!
„Dann muss ich sie wohl fahren lassen,“ sprach der erste jetzt.
„Passen sie aber auf. Bis Sofia sind noch mehrere Kontrollen unterwegs. Gute Fahrt dann noch“!
Und tatsächlich: Unterwegs wurden wir noch öfter durch Lichthupsignale auf
bevorstehende Messungen aufmerksam gemacht und kamen unbehelligt an unser Ziel.

20 Leva Trinkgeld

Auf der Landstraße Nr. 8 zwischen Pazardzhik und Plovdiv.
Schnurgerade Landstraße, ab und zu durch einmündende Feldwege unterbrochen, jedoch gut einsehbar.
Vor jedem Feldweg Begrenzung auf 50 km/h. Und das alle ca. zwei Kilometer. Mit
der Zeit nervt das. Mir ist unklar, wieso hier ständig solche Tempolimits auferlegt werden.
Nach dem zweiten oder dritten einmündenden Feldweg bleibe ich bei den 80 km/h die auf der Landstraße erlaubt sind.
Der Teufel wollte es: ein paar hundert Meter weiter werde ich schon an den
Straßenrand gewinkt. „Kommen sie bitte mit Pass und Fahrzeugpapieren zum
Einsatzfahrzeug“!
Belehrung: Mit 85 km/h gemessen. Das sind 35 km/h zuviel.
„Was kostet denn eine solche Übertretung in Deutschland?“
„In Deutschland würde es solche Beschränkungen gar nicht geben. Die Straße ist doch übersichtlich! Was sollen die ständigen Limits hier vor jedem Feldweg“?
Allerdings: innerhalb der Stadt kann es schon teuer werden“.
„Wieviel“?
„Na ich denke mal so zehn Euro“, log ich.
Er schaut seinen Kollegen an: „Ist ja genau wie bei uns. Ich dachte immer dort wäre es viel teurer“.
„Ach was glaubt ihr denn? Solche Kontrollen gibt es in Deutschland überhaupt nicht. Höchstens mal eine automatische Kamera an Ortseingängen“.
20 Leva hatte ich mir gerade noch, bevor ich zum Polizeifahrzeug ging in die
Hosentasche gesteckt. Vorsorglich!
Die drückte ich dem Einen jetzt in die Hand.
„Danke“!
Ich empfahl den Beiden, sich doch besser ein paar Kilometer weiter an einer kurven- und felsenreichen Passstraße zu postieren. Dort hatte ich gerade erst wieder die schlimmsten Hulligans der Straße erlebt, wie sie mit hoher Geschwindigkeit vor unübersichtlichen Kurven und vor Einengungen durch Felsen rücksichtslos überholten und mich dabei einige male in äußerst brenzliche Situationen gebracht hatten. Ich hatte noch immer eine ziemliche Wut.
„Wir wissen das auch. Aber unser Auftrag ist es nun mal hier zu stehen“.
„Klar“, dachte ich so bei mir. Hier sind die Chancen auf Gewinn höher!

Der Gipfel der Freundlichkeit

Auf einer Fahrt von Sofia nach Varna auf der Autobahn „Hemus“:
Durch das Vitinja - Gebirge führt die „Avtomagistrala“ durch eine Anzahl von längeren oder kürzeren Tunnels.
Dass in den Tunnels die Geschwindigkeit auf 80 km/h herabgesetzt ist versteht sich.
Als ich einen weiteren solchen Tunnel passiert hatte, gab ich nach der Ausfahrt
wieder Gas und kam auf 110 km/h. als hinter einer Biegung plötzlich ein
Uniformierter in der giftgrünen Warnweste auf die Fahrbahn sprang und mich
auswinkte. Ich hatte wirklich Mühe, das Fahrzeug nach knapp 100 Metern zum
Stehen zu bringen. Der Beamte kam zu meinem Wagen und bedeutete mir,
zusammen mit den Fahrzeugpapieren zum Polizeifahrzeug zu kommen.
„Warum werde ich denn angehalten?“ fragte ich.
In freundlichem Ton erklärte mir der eine, dass hinter der Biegung ein langgezogene
Brücke kommt und man deshalb die Geschwindigkeit herabsetze.
„OK aber ich habe kein Schild gesehen. Nach dem Tunnel war ich der Meinung, dass
die Begrenzung aufgehoben ist.“
„Das Schild steht unmittelbar hinter dem Tunnel. Es ist möglich, dass sie es dort
übersehen haben“.
Die übliche Prozedur: Papiere prüfen, Kennzeichen überprüfen. Pass überprüfen.
Er stutzt: „Sie sind Deutscher“?
„Ja!“
Zu seinem Kollegen gewand sagte er: „Der ist Deutscher. Dem tun wir nichts!“
Woher ich jetzt komme und wohin ich wolle.
Ich erzählte, dass ich aus Sofia kommen würde und nach Varna fahre.
„Das ist noch eine lange Strecke. Da kann ich verstehen, dass sie es eilig haben“!
meinte er. Nun ja so eilig denn nun auch wieder nicht. „Ich bin an und für sich ein
sehr umsichtiger Fahrer“, schmeichelte ich mich ein. Ich hätte in meinem Leben noch nie ein Ordnungsgeld wegen überhöhter Geschwindigkeit auferlegt bekommen.
„Du bist Pensionär, was machst Du so im Urlaub“?
„Ich bin keineswegs in Urlaub“, erklärte ich. Ich arbeite in Varna für einen Verlag als Übersetzer und jetzt bin ich auf dem Weg dahin, weil es einige Dinge dort zu klären gibt“.
Nun entwickelte sich ein recht freundschaftliches Gespräch. Dabei muss man
erwähnen, dass es in diesem Land üblich ist, dass ältere Menschen von jüngeren auch geduzt werden. Das ist keineswegs unhöflich, sondern eher eine Form von Respekt. So nach der Art: meinen Opa sieze ich ja auch nicht – den verehre ich doch.
Im Verlauf stellte sich heraus, dass dieser Polizist mit einer Münchnerin verheiratet ist und sie aber zusammen in Bulgarien leben.
Nach etwa einer halben Stunde verabschiedeten wir uns in aller Freundschaft,
nachdem mir der Wortführer noch seine Mailadresse aufgeschrieben hatte. Ich hatte ihm versprochen bei Ebay nach einem bestimmten Motorrad zu schauen, was er gerne kaufen wollte.

Aber: Der Gipfel der Unfreundlichkeit

In der Nähe von Targovishte:
Der Fiat Ulisse war vollbesetzt. Meine beiden Kinder. Der Mann meiner Tochter und die beiden Enkel.
2007 - Wir fuhren von Lowetsch nach Varna.
In der Nähe von Targovischte. Eine Umgehungsstraße. Limit 50 km/h. wegen einer Kreuzung mit untergeordneter Straße. Nun denkt man ja, nach der Kreuzung ist die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben und ich gab wieder Gas. Unter einer Brücke, welche die Magistrale über unsere Landstraße führte, sehe ich sie schon von weitem stehen. Der eine Sheriff hebt die Kelle. Super, das hat mir jetzt wieder mal gefehlt...
Die übliche Prozedur.
Aber heute irgendwie ganz anders:
„Was ist das für ein Pass“?
Ich hatte mal vorsorglich meinen Personalausweis gezogen, der mittlerweile auch als Reisedokument Gültigkeit hatte. Dort konnte man wenigstens nichts hineinstempeln.
„Ein deutscher Pass ist das“!
Gegenseitiges ungläubiges Anschauen der beiden. Allgemeines Kopfkratzen. Er
reicht den Pass an den Kollegen weiter. Der schaut auch ganz verdutzt auf das
Dokument. Der Andere: „Und was ist das für ein Fahrzeug“?
„Ein Mietwagen“! (Foto)
„Was machen wir jetzt“? fragt der Erste den Anderen. Die waren wohl beide ziemlich beschränkt.
Bevor ich noch einen entsprechenden Vorschlag machen konnte, wie man
gegebenenfalls verfahren könne, hatte der erste schon sein Handy gezückt und rief seinen Chef an:
„Cheffe, hier ist ein Deutscher mit bulgarischem Fahrzeug.
Geschwindigkeitsübertretung. Was sollen wir tun?
Nach eine Weile an mich gewandt, sagte er: „Wir müssen sie zum Polizeipräsidium eskortieren. Folgen sie uns bitte, wir fahren langsam voraus“!
Kann ich denn die Strafe nicht gleich hier bei Euch entrichten? Das kann man doch an Ort und Stelle regeln!
Der Chef hat gesagt, dass wir ins Präsidium kommen sollen
Das Messgerät wurde eingepackt und mit Blaulicht ging es erst mal in falscher
Richtung auf die Schnellstraße. Also gewissermaßen die Einbahnstraße in
entgegengesetzter Richtung. Ich mit voll beladenem Ulisse hinterher. Autorisiert durch das Blaulicht des Polizeiwagens. "Wie die Verbrecher", unkten wir noch im Wagen.
Im Polizeipräsidium bedeutete man mir zu warten. Den Pass und die
Fahrzeugpapiere hatte man mir ja schon auf der Straße abgenommen.
Sodann erschien ein dicker, schwitzender Oberstleutnant mit dem eilfertigen
Truppführer von der Kontrolle.
Der Dicke stapfte daher wie der Marshall mit seinem Deputy.
„Gib deinen Ausweis“! bellte der OTL sofort los.
Ich suchte in meiner Tasche und in den Papieren. Die Aufregung hatte mich
vergessen lassen, dass er mir abgenommen wurde.
Da sah ich alle meine Papiere in seiner Hand.
„Du hast ihn in der Hand“! Auch ich war schon ziemlich unfreundlich wegen der
allgemeinen Beschränkteit, die mir hier begegnete.
Jetzt wurde er ein wenig unsicher. Seine Großspurigkeit ließ etwas nach. Er schaute alles der Reihe nach an.
„Aber was ist das für ein Pass“?
Der Polizist raunte ihm zu: „Aber Cheffe, ich habe doch gesagt, das ist ein
Deutscher“!
„Aha und wieso sprichst du bulgarisch“?
„Wir können uns auch gerne auf Englisch unterhalten, wenn Du das besser
beherrschst“, provozierte ich jetzt.
Nun konnte man aber deutlich sehen, wie ich ihn getroffen hatte. Der ohnehin von Hitze und Bluthochdruck gerötete Schädel wurde noch roter und er fing laut zu schnaufen an. Forderte seinen Beamten auf, mitzukommen. Der seinerseits bedeutete mir zu folgen.
„Der bleibt hier und wartet“!
Das dauerte dann so an die zwei Stunden. Ich war jetzt überzeugt, dass Marshall die Sache absichtlich so lange hinauszögerte. Mein Schwiegersohn kam und fragte, wann es denn nun weiterginge. Die standen in der Nachmittagshitze schon eine Ewigkeit in praller Sonne herum. In mir wuchs die Wut.
Nach endlosem Warten erschien der Dicke wieder. Er hatte sich wohl inzwischen etwas abgekühlt, was mich veranlasste, ihm erneut einzuheizen.
Er forderte 124 Leva Strafe für die Geschwindigkeitsübertretung.
Ich fragte ihn ob er mir denn zeigen würde, wo das geschrieben steht und ob er das vor zwei Stunden noch nicht gewusst hätte.
„Im Gesetzblatt“! war seine Antwort.
Ich verkniff mir die Bemerkung, ob sie denn zwei Stunden gebraucht hatten, um den Passus im Gesetzblatt zu finden. Meine Wut wuchs von Minute zu Minute!
„Ich will es sehen“!
Er schickte den Beamten los, das Gesetzblatt zu holen.
An die Dame am Kassenschalter gewand: „Schreibe den Beleg aus“!
„Wenn ich aber soviel Geld nicht bei mir habe“? provozierte ich weiter.
„Dann besorgst du dir welches“!
„Und wie, wenn ich fragen darf“?
„Das ist nicht meine Sache. Ich kann Dich auch einsperren“!
„Klar, ich habe draußen im Wagen eine schwangere Frau und zwei Kinder sitzen. Ich glaube, ich sollte jetzt meine Botschaft anrufen“!
Er verschwand stapfend wieder in seiner Kemenate.
Der Sheriff kam mit dem Gesetzblatt und zeigte mir die Seite. Es stimmte!
124 Leva und einige Stotinki waren für die überhöhte Geschwindigkeit fällig. Nun
wollte ich den Dicken nicht noch weiter reizen. Ich wendete mich an die Kassendame und bezahlte meinen Obolus.
Die hatte die ganze Zeit schon mit ihrer gepackten Tasche, fertig für den Feierabend gestanden und war bestimmt auch nicht gut auf mich zu sprechen ob der Verzögerung ihres Feierabends.
Der Sheriff war wieder ins Zimmer zu dem Marshall verschwunden. Nach einiger Zeit kam Deputy mit meinen Papieren. Er hielt auch ein Protokollformular in Händen, welches er ausfüllen musste. Vier Seiten!
Zunächst aber entschuldigte er sich wortreich. Das hätte er so nicht gewollt. Ich
sagte noch mal, dass die Angelegenheit längst erledigt sein konnte, wenn er nicht so voreilig den Boss angerufen hätte.
„Ihr hättet in der Zwischenzeit gewiss noch eine große Anzahl an Verkehrssündern abkassiert... Ich bin wirklich geneigt, mich über das Verfahren beim Innenministerium zu beschweren“ trumpfte ich auf.
Marshall ließ sich jetzt nicht mehr blicken.
Nun ging es ans Ausfüllen des Protokolls. Ich konnte deutlich sehen, dass er schon bereute, was er sich und mir angetan hatte.
Zeile für Zeile fragte er mich, was denn da im Ausweis geschrieben stand, bzw. wo der Wohnort zu finden sei und so fort. Jetzt wusste ich Bescheid: Der Bursche war nicht mal der lateinischen Schrift mächtig.
Das dauerte dann bestimmt noch mal eine halbe Stunde. Er bedankte sich für meine Mithilfe und entschuldigte sich erneut.
Wir gaben uns zum Abschied die Hand.
Am nächsten Tag hatte ich mich wieder einigermaßen beruhigt. Ich ordnete meine Papiere und sah mir jetzt zum ersten mal den Einzahlungsbeleg etwas genauer an.
Der Durchschlag war ganz schwach. Aber bei genauem Hinsehen war es zu
erkennen:
24 Leva und die entsprechenden Stotinki war da in Ziffern und Worten eingetragen.
Mehrfach schaute ich immer wieder darauf. Konnte es nicht glauben.
Kein Zweifel:
Die clevere Dame an der Kasse hatte sich 100 Leva unter den Nagel gerissen!
Ob sie mit dem dicken, hypertonischen Marshall geteilt hat?
© Alle Rechte beim Autor

Autor:

Edgar Stötzer aus Bochum

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