Das Kind

Der Sonnenaufgang an diesem Tag war besonders schön. Doch es war noch Nacht und das Kind lag in tiefem Schlaf. Vielleicht träumte es von Drachen und Prinzen? Wer weiß schon um die Träume eines fremden Kindes. Mit zunehmender Helligkeit wurde der Schlaf des Kindes unruhiger und es begann aufzuwachen. Zuerst wusste es nicht so richtig, wo es war. Doch dann begann es sich zu erinnern. Mitten in seine Gedanken hinein, wurde die Türe geöffnet. Die Frau betrat das Zimmer und schaute es nachdenklich an. Sie strömte den Geruch von warmem Brot aus. Es war ihm egal.

Sie sagte nichts, aber das Kind stand auf und folgte ihr über eine alte Holztreppe hinunter in die Küche. Drei weitere Kinder saßen an einem Tisch in der Mitte der Küche. Sie waren ungefähr in seinem Alter. Es setzte sich mit an den Frühstückstisch und begann mechanisch zu essen, ohne etwas zu schmecken. Die anderen Kinder schauten es an, und wussten nicht so recht wie sie mit ihm umgehen sollten.
Die Frau brachte das Kind zur Schule. Es war ein sehr kalter Tag mit Eis und Schnee. Mittlerweile hatten sich dunkle Wolken vor die Sonne geschoben. Das Gebäude sah von Außen nicht sehr einladend aus, doch im Inneren war es hell, warm und freundlich. An den Wänden hingen viele selbstgemalte bunte Bilder. Unser Kind hatte keinen Blick dafür.

In der Klasse angekommen, warteten schon wieder zahlreiche neue und fremde Eindrücke auf unser Kind. Verloren saß es unter den vielen Grundschülern und fühlte sich vollkommen fehl am Platz. Die Lehrerin erzählte gerade etwas und alle sahen das Kind an. ‚Ich glaube sie redet von mir’ ging es ihm durch den Kopf. Bevor es zu unangehm wurde, ließ die Neugierde nach und alle, außer ihm, sangen ein Lied. Das Kind kannte das Lied, und es fühlte Tränen in seine Augen steigen. Wie gerne hatte es dieses Lied gesungen. Es war sein Lieblingslied. Doch heute kam kein Laut aus seiner Kehle.

Nach mehreren Stunden, die inhaltslos an dem Kind vorbeiflogen, holte die Frau das Kind wieder ab. Da der Schnee jetzt sehr hoch lag, wirkte die Landschaft surreal. Die Frau hatte Mühe das Fahrzeug auf der Straße zu halten, doch sie schien eine geübte Fahrerin zu sein. Jedenfalls kamen sie unbeschadet zu Hause an. Als das Kind abends wieder in seinem Bett lag, erinnerte es sich schwach an Essen und Spielen während des restlichen Tages, und an einen Mann der wohl auch zu dieser Familie gehörte. Doch auch das war ihm egal.

Die Sonne stand schräg am Himmel als das Kind erwachte. Die Frau öffnete leise die Türe und lächelte es an. Das Kind lächelte zurück.
Als beide zur Schule fuhren, fielen während der Fahrt die bunten Blätter von den Bäumen auf die Scheibe. Das Kind erinnerte sich noch an die erste Fahrt in diesem Auto. Wie sehr hatte es seine Eltern vermisst und vermisste sie auch heute noch. Niemals würde das Kind sie vergessen. Sie hatten ihren festen Platz in seinem Herzen. Doch das Leben ging weiter.

Das Kind stieg aus. Es schaute zurück zu der Frau, die ihm zuwinkte.
"Tschau, Luisa. Pass gut auf dich auf."
"Tschau, M…." Nein, das konnte sie noch nicht sagen. Vielleicht auch nie. Aber sie freute sich jetzt schon auf zu Hause.
Summend ging sie durch das bunte Herbstlaub. Es war ihr Lieblingslied.

© pefito

Autor:

Petra Tollkoetter aus Dinslaken

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

7 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.