Ruhrtriennale 2015 # Dinslaken, Accattone ... oder: Gedanken zur Kommunalwahl

Gelände der Zeche Lohberg in Dinslaken
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Kann der Mensch Erlösung von seinem jämmerlichen Dasein durch Arbeit finden, oder bleibt ihm nur ein rettender Tod? Und was ist das Leben wert, wenn keine Arbeit vorhanden ist?

Die Ruhrtriennale eröffnete mit der inzwischen abgeschlossenen Aufführungsreihe von Accattone in der Kohlenmischhalle Zeche Lohberg, Regie führte der Triennale-Chef Johan Simons.

Das Musiktheaterstück passt in die Umgebung, die Zeit, die Gesellschaft - nur, lieber Johan Simons, warum hast du so kurz vor den Kommunalwahlen keine Extravorstellung nur für Politiker vorgesehen? Vielleicht mit ein paar Soziologen und Psychologen, die unseren politischen Führern Tips geben könnten, ob und wie nicht nur Lohberg und Dinslaken, sondern das ganze Ruhrgebiet zu retten ist? Die Damen Kraft in Oberhausen und Merkel in Marxloh - dabei fasst Accattone alles in einem Stück zusammen.

Dinslaken- Lohberg, eine abgewickelte Zeche in Teil-Demontage, trostlose Steinwüste und überpflanzte Halden, darum Siedlungsbau der 1950er und 60er Jahre, Wohnungen für seinerzeit angeworbene Arbeiter, auch solche aus Südeuropa, die es mal besser haben wollten. Hier wie überall im Ruhrgebiet - abgewickelte Industrie, abgewrackte Häuser, Menschen die nicht einmal mehr Arbeiter sein können - außerhalb der bürgerlichen Mitte, abgehängt von der Konsumgesellschaft - einsam wie Accattone in der geschotterten leeren Riesenhalle.

Das Musiktheaterstück kreist um Accattones Straßengang - Gewalt nach außen fungiert, um sich das Überleben materiell zu sichern und Gewalt nach innen, um die Hierarchie in der Gruppe klarzustellen, coole Alltagsbewältigung eben.

Frauen sind angepasst und lassen sich auf den Strich schicken oder sind selbstbewusst als freie Hure oder als allein erziehende Flaschenspülerin unterwegs - im Zuge der ökologischen Korrektness heute also als Flaschensammlerin.

Männer sind Diebe, Bettler, Zuhälter - sie haben sich mit ihrer Existenz im Nichts arrangiert, von ihnen geht kein Rebellion aus. Oder doch? Accattone greift seine Asozialenrolle auf und erklärt sie zur erstrebenswerten Lebensform, er stellt das bürgerliche Wertesystem einfach auf den Kopf.
Er will nicht satt zu essen haben, er will keine Wohnung, er will keine Nächstenliebe und erst recht keine Emotionalität - vielleicht weil er weiß, das all das für ihn, den Ausrangierten, nicht zu haben ist. Accattone hängt in seiner Gruppe ab, betrinkt sich, testet Grenzen aus mit Diebstählen und Schlägereien. "Accattone" bedeutet Bettler - derjenige, der nicht gibt sondern nur nimmt. Er scheitert als Ehemann, als Zuhälter und, als er von Sehnsucht nach einem normalen Leben getrieben auf Arbeitssuche geht, an der geistlosen Hungerlohn-Tätigkeit. Einmal draußen, immer draußen.

In Anlehnung an den gleichnamigen Film über das Rom von 1961 von Pier Paolo Pasolini wird auch in der Fassung von Koen Tachelet die Musik als dramaturgisches Mittel eingesetzt.
Johan Simons erzählt in seiner Bearbeitung des Films die Geschichte in der Form einer Passion.
Das Collegium Vocale Gent unter dem Bach-Spezialisten Philippe Herreweghe "kommentiert" das brutal reale Geschehen mit wunderschönen Harmonien längst vergangener Zeiten der sakralen Musik. Die wunderbar gespielten und glasklar gesungenen Arien und Choräle fragen "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen" und "Liebster Gott, wann werd ich sterben".
Accattone, der sich auf einem gestohlenen Motorrad zu Tode fährt, sagt: "Jetzt geht es mir gut". Der Tod als Befreiung - dazu die Bass Arie "Ich habe genug".

Wenn Arbeit nicht mehr identitätsstiftend ist, weil man arbeitslos ist, wenn Arbeitssuche nicht weiterhilft, weil keine existenzsichernden Löhne gezahlt werden, wenn die Religion auf die Nächstenliebe verweist, der Andere aber nichts hat was er geben kann, wenn man es besser haben will, aber keine Besserung in Sicht ist - dann hilft dem Ruhrgebiet die Hoffnung auf den Tod, oder?

Autor:

Dorothea Weissbach aus Oberhausen

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