Heiliges und heilsames Grün

Wem geht nicht das Herz auf beim Anblick einer saftig grünen Wiese, beim ersten Grünschimmer der Bäume oder beim Leuchten von grün-wogenden Wasserpflanzen in der Sonne? Wer empfindet nicht Freude, Leichtigkeit, Ruhe, Trost oder Dankbarkeit im Grün des eigenen Gartens oder des Stadtparks?
Für eine war Grün allerdings unendlich viel mehr als eine Farbe der Natur, die sie über alles liebte: Grün war für die Äbtissin, Heilerin, Mystikerin und Komponistin Hildegard von Bingen nicht weniger als der sichtbare Ausduck der alles durchpulsenden göttlichen Kraft!

Sancta viriditas heißt das Grün in ihren umfänglichen Schriften: Heilige Grünheit, Heilende Grünkraft.

Hildegard nahm das durchaus wörtlich; in ihren Heilrezepten, die bis heute zahlreiche Anhänger finden, gibt sie praktische Ratschläge für die Behandlung - oder besser: die Verbindung - mit dieser wunderbaren Grünkraft:
Menschen mit trüben, schwachen oder überanstrengten Augen ermuntert sie:
"Es soll der Mensch hinausgehen auf eine grüne Wiese und sie so lange anschauen, bis seine Augen wie vom Weinen naß werden: Das Grün dieser Wiese nämlich beseitigt das Trübe in den Augen und macht sie wieder sauber und klar."
Noch wirksamer aber sei es, sich selbst hineinzulegen ins grüne Gras und sich bildlich vorzustellen, wie die grünen, frischen Lebenskräfte der Gräser und Kräuter den eigenen Körper und die Seele durchfließen, reinigen, stärken und heilen.
Was sollte uns hier und jetzt daran hindern, diese einfachen Dinge auch für uns auszuprobieren, das Grün nicht als selbstverständlich zu nehmen, sondern wie ein kostbares Schöpfungsgeschenk?
Hildegard war übrigens auch eine Klangmeisterin, sie komponierte 77 Lieder - eine ganz und gar ungewöhnliche Tat für eine Frau im 11. Jahrhundert - und das 39ste ist ganz allein der ehrenden Anrufung der Heiligen Grünkraft gewidmet:

O edelstes Grün,
das wurzelt in der Sonne
und leuchtet in klarer Heiterkeit,
im Jahreskreis,
den keine irdische Herrlichkeit fassen kann.
Umgeben bist Du und umarmt vom göttlichen Geheimnis
Brichst auf wie die Morgenröte
und flammst wie der Sonne Glut
Du Grün bist umflossen von Liebe.

Vor fast tausend Jahren hat Hildegard diese Ode geschrieben und dennoch kann sie uns hier und jetzt anrühren und begeistern.
Immer mehr Menschen wollen wieder raus ins Grüne, suchen intensiv wieder den Kontakt zum Landleben, zur Gartenarbeit, zum Umgang mit Pflanzen und Kräutern. Schrebergärten stehen hoch im Kurs, Urban Gardening wie in den Berliner Prinzessinnengärten ist absolut im Trend. Mit Sicherheit aber zeigt sich darin nicht nur der Wunsch, am gerade angesagten Lifestyle-Hype teilzuhaben, sondern ein tiefes, vielleicht manchmal unbewusstes Verlangen nach Verbundenheit und Spiritualität.
Der Aufenthalt, das Dasein im "edelsten" Grün kann in uns die edelsten Seiten wecken, kann unsere Wahrnehmung dafür öffnen, wie wir persönlich in die Rhythmen des Jahreskreislaufs, die kosmische Ordnung eingebunden sind.
Das heilige Grün steht bei Hildegard aber auch für alles Frische, jeden Neuanfang, das Keimen von allem, was jetzt, in diesem Augenblick, beginnt - das ist die Verwandtschaft zur Morgenröte - und in dieser Hinsicht stärkt es unseren Mut, Dinge immer wieder innovativ und impulsiv in Angriff zu nehmen. Ein Kraftelixier!

Hildegard von Bingen hatte schon als kleines Mädchen Visionen. Sie fiel dabei weder in Ohnmacht noch geriet sie in Trance, sondern empfing bei klarem Bewusstsein und Verstand deutliche Bilder, die sie weiter erzählte und mithilfe eines Freundes und einer Freundin im Kloster niederschrieb. Schon zu ihren Lebzeiten wurden ihre Bücher veröffentlicht.
Eine dieser Visionen war die Erscheinung der göttlichen Weisheit, der Sophia. Hildegard sah sie als schöne und weise Frau in einem glänzenden, grünen Mantel. Die Grünkraft umfasst nicht nur Sinne, Seele und Körper, sondern auch Verstand und Geist.
Draußen sein, im Grünen sein, kann uns in Kontakt bringen mit einer inneren Weisheit, die höher ist als praktische, menschliche Vernunft.

Die letzten Worte sollen Hildegard gehören:
" Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit und diese Kraft ist grün. Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde geschaffen und alle Schönheit der Welt."

Autor:

Christine Lindemann aus Dortmund-City

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