Sahra Wagenknecht: "Die wirklich teuren Flüchtlinge sind die Steuerflüchtlinge"

"Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie sofort alle Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, und erteilen Sie all denen eine Absage, die schon wieder dafür trommeln, dass wir nun auch in Syrien mitbomben sollen! Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden, sondern sie bewirken nur, dass noch mehr verzweifelte Menschen zur Flucht gezwungen werden.", erklärt Sahra Wagenknecht (DIE LINKE). | Foto: Bernd Kuhnert
  • "Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie sofort alle Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, und erteilen Sie all denen eine Absage, die schon wieder dafür trommeln, dass wir nun auch in Syrien mitbomben sollen! Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden, sondern sie bewirken nur, dass noch mehr verzweifelte Menschen zur Flucht gezwungen werden.", erklärt Sahra Wagenknecht (DIE LINKE).
  • Foto: Bernd Kuhnert
  • hochgeladen von Carsten Klink

Sahra Wagenknecht hat in der Bundestagsdebatte am 24.09.2015 die schwarz-rote Regierungserklärung zum Sondertreffen der EU zu Flüchtlingen und zum UN-Nachhaltigkeitsgipfel massiv angegriffen.

"60 Millionen Menschen sind weltweit gegenwärtig auf der Flucht. Viele von ihnen hatten ihre Heimat früher in Ländern wie dem Irak, wie Afghanistan, Libyen oder auch Syrien. Sie fliehen nicht vor Naturkatastrophen; sie fliehen vor Terrorbanden wie den Taliban oder dem IS, sie fliehen auch vor Assad, aber sie fliehen vor allem vor den Folgen westlicher Politik; denn es waren die als humanitäre Intervention maskierten Ölkriege der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten, die in Afghanistan und im Irak verbrannte Erde hinterlassen haben und die Mördermilizen des IS und jetzt auch die Taliban in Afghanistan erst wieder so stark gemacht haben, wie sie gegenwärtig sind. Und es waren westliche Interventionen, die die staatlichen Strukturen in Libyen zerstört und die auch in Syrien den Bürgerkrieg immer weiter angeheizt haben. Und es sind nicht zuletzt deutsche Waffen, die in all diesen Ländern Tod und Schrecken verbreiten.

Deshalb: Wer von Flüchtlingen redet, der darf über Kriege, Drohnenterror und Waffengeschäfte nicht schweigen. Wir werden das Flüchtlingsproblem nicht durch weitere Einschränkungen beim Asylrecht lösen und auch nicht durch Gefeilsche um europäische Quoten und schon gar nicht durch neue Mauern und noch höhere Zäune. Wir werden es nur lösen, wenn Europa endlich aufhört, die Vereinigten Staaten dabei zu unterstützen, immer größere Teile des Nahen und Mittleren Ostens in einen Brandherd zu verwandeln. Das muss endlich aufhören.

Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden

Stattdessen müssen wir sie unter Druck setzen, endlich den ihrer Verantwortung angemessenen Beitrag an den Kosten zu leisten. Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie sofort alle Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, und erteilen Sie all denen eine Absage, die schon wieder dafür trommeln, dass wir nun auch in Syrien mitbomben sollen! Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden, sondern sie bewirken nur, dass noch mehr verzweifelte Menschen zur Flucht gezwungen werden.

Nur eine kleine Minderheit der Flüchtlinge schafft es bis Europa. Millionen leben unter unwürdigen Bedingungen in den Lagern der Nachbarstaaten. Vor kurzem musste die Welternährungsorganisation dort die Nahrungsmittelrationen halbieren, weil selbst der erbärmliche Betrag von 27 Dollar pro Person und Monat nicht mehr finanzierbar war.

Ich muss sagen: Auch das, was jetzt als großes Ergebnis des gestrigen Gipfels verkündet wird, nämlich dass man 1 Milliarde Euro mehr an Mitteln zur Verfügung stellt, ist weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein. Das ist einfach lächerlich und unangemessen. Flüchtlinge hungern, und ihre Kinder bekommen keine angemessene Bildung, weil die reichen Länder Milliarden für Kriege ausgeben, aber nur lächerliche Beträge für humanitäre Hilfe. Ich finde, das ist eine Schande. Es zeigt auch sehr deutlich die wirklichen Werte der gelobten westlichen Wertegemeinschaft.

Ja, viele von denjenigen, die auf der Flucht sind, fliehen auch vor wirtschaftlichem Elend und blanker Not. Aber auch dafür sind die Industriestaaten mit verantwortlich. Frau Merkel, Sie haben hier sehr vieles gesagt, was ich unterschreiben kann. Aber dann nehmen Sie doch endlich die UN-Ziele zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit ernst, und beteiligen Sie sich nicht länger daran, armen Ländern Freihandelsabkommen zu diktieren, die ihre Landwirtschaft und ihre Industrie zerstören, die ihre Menschen arm und ihre Märkte zur Beute internationaler Konzerne machen! Das sind doch die Folgen. Wenn Sie da nicht die entsprechenden Konsequenzen ziehen, dann nützen all die schönen Worte hier nichts.

Niemand sollte sich wundern, dass immer mehr Menschen ihre letzte Hoffnung darin sehen, sich auf den gefährlichen Weg nach Europa zu machen. Dafür, dass die, die bis nach Deutschland kommen, hier eine freundliche Aufnahme finden, haben in den letzten Wochen vor allem das großartige Engagement der vielen ehrenamtlichen Helfer und die Spendenbereitschaft der Bevölkerung gesorgt.

"Wir schaffen das", haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, gesagt. Das klang gut. Dafür wurden Sie gelobt, aber auch aus den eigenen Reihen kritisiert. Ich habe den Eindruck, inzwischen hat Sie die Angst vor der eigenen Courage befallen.

Zumindest muss man sehen, dass die Politik der Bundesregierung mehr und mehr in Kontrast zu Ihren warmen Worten steht. Wir finden es unverantwortlich, Länder und Kommunen mit dem übergroßen Teil der Integrationskosten alleinzulassen. So organisiert man nicht Willkommenskultur, sondern Überforderung und Spannungen.

Wer so etwas zulässt, vergiftet das Klima in unserem Land

Sie wissen doch, wie die Situation in vielen Städten und Gemeinden ist, wie viele Krankenhäuser privatisiert und wie viele marode Straßen nicht repariert wurden, weil die Kassen gähnend leer sind. Sie wissen, dass die meisten Bundesländer im Korsett der Schuldenbremse Probleme haben, ihre ganz normalen Aufgaben zu erfüllen. Jetzt kommen Hunderttausende in unser Land, die Deutschkurse und Hilfe brauchen, Wohnungen, Bildung für ihre Kinder und letztlich auch Arbeitsplätze. Wollen Sie wirklich, dass Stadtkämmerer ihren Bürgern demnächst erklären müssen, dass das öffentliche Schwimmbad leider nicht mehr zu halten ist, weil sonst die Mietzuschüsse für Flüchtlinge nicht gezahlt werden können? Wollen Sie, dass die Finanzierung von Deutschkursen gegen die Finanzierung von Bibliotheken aufgerechnet wird? Wer so etwas zulässt, der vergiftet das Klima in unserem Land.

Auch die zusätzlichen Ausgaben des Bundes will Herr Schäuble über Kürzungen in anderen Haushaltsposten finanzieren. Ist der Bundesregierung nicht klar, dass sie so die hiesige Bevölkerung, und zwar gerade diejenigen, denen es nicht gut geht ‑ die niedrige Renten, schlechte Löhne haben oder von Hartz IV leben ‑, in unverantwortlicher Weise gegen die Flüchtlinge ausspielt? Denn nicht die Wohlhabenden, sondern vor allem die Ärmeren werden betroffen sein, wenn zur Finanzierung von Integration andere Budgets gekürzt werden.

Nicht die Wohlhabenden, sondern die Ärmeren wohnen in den Wohngebieten, in denen in Zukunft auch die Flüchtlinge nach Wohnungen suchen werden. Es ist keine irrrationale, sondern eine absolut plausible Angst, dass dort dann die Mieten weiter steigen werden. Seit Jahren werden in diesem Land kaum noch Sozialwohnungen gebaut. Viele Gemeinden haben ihren Wohnungsbestand privaten Renditejägern überlassen. Öffentliche Investitionen in guten und erschwinglichen Wohnraum sind seit Jahren überfällig, und sie werden mit jedem ankommenden Flüchtling dringender.

Natürlich sind es auch nicht die Spitzenverdiener, sondern diejenigen im ohnehin viel zu großen Niedriglohnsektor, die es zu spüren bekommen werden, wenn Unternehmen Flüchtlinge für Lohndumping missbrauchen. Auch das könnten Sie verhindern: durch Erhöhung des Mindestlohns und Abschaffung der Ausnahmen, durch Verbot von sachgrundloser Befristung, Leiharbeit und Missbrauch von Werkverträgen. Es ist die verdammte Verantwortung der Politik, dafür Sorge zu tragen, dass die Integration nicht zu einer neuen Welle von Lohndumping und Sozialabbau führt.

Schwarze und braune Nullen

Denn wer das zulässt, der nährt genau die Ängste und Ressentiments, die rechten Hasspredigern den Boden bereiten. Ist Ihnen, Frau Bundeskanzlerin Merkel, die schwarze Null wirklich so heilig, dass Sie dafür in Kauf nehmen, braune Nullen beim Stimmenfang zu unterstützen? Ich finde das unverantwortlich.

Grenzen dicht für Steuerflüchtlinge

Zumal Sie ja noch nicht einmal große neue Schulden machen müssen. Ohne all die Steuergeschenke an die oberen Zehntausend und ohne Ihre Untätigkeit bei der Verhinderung von Steuerflucht hätten Bund, Länder und Kommunen heute ganz andere Spielräume. Denn die wirklich teuren Flüchtlinge sind nicht die, die vor Krieg und Terror fliehen. Die wirklich teuren sind die Steuerflüchtlinge, die Konzerne und reichsten Familien, die mit tausend Tricks die öffentliche Hand in Deutschland jedes Jahr um bis zu 100 Milliarden Euro prellen.

Deswegen: Sorgen Sie endlich für eine ordentliche Besteuerung der großen Vermögen, und machen Sie die Grenzen dicht für Steuerflüchtlinge, statt die Kosten für die Integration ausgerechnet auf den Teil der Bevölkerung abzuwälzen, der schon in den letzten Jahren durch Ihre Politik ständig an Wohlstand verloren hat! Ich bin überzeugt: Nur dann, wenn sich das Gefühl "Es geht bei uns gerecht zu" wieder einstellt, werden wir es tatsächlich schaffen, die Integration zu leisten und die Willkommenskultur zu erhalten."

Sahra Wagenkecht, DIE LINKE: "Die wirklich teuren Flüchtlinge sind die Steuerflüchtlinge"

Autor:

Carsten Klink aus Dortmund-Ost

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

9 folgen diesem Profil

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.