Guanchero

Wenn man ihm auf den Wiesen der Nordhänge begegnete, schien die Zeit auf seltsame Art und Weise still zu stehen. Er strahlte eine sanfte Ruhe aus und eine zwanglose Freundlichkeit, die von Herzen kam.

Still saß er auf einem Stein, betrachtete seine Herde, die aus Schafen und Ziegen bestand, dazwischen sprangen die Hunde herum und erfreuten sich ihres Lebens in Freiheit.

Freiheit, das war es, wonach er sich sein Leben lang gesehnt hat, so erzählte er, während er an einem Grashalm kaute. Ja, in jungen Jahren hatte er versucht, es seinen Nachbarn gleich zu tun und am boomenden Tourismus auf seiner Insel zu verdienen. Schnell hatte er gemerkt, dass es nicht sein Leben war, das er da zu führen versuchte.

Er hatte nichts gegen die Fremden, die plötzlich in Scharen sein kleines Bergdorf bevölkerten. Nein, er betrachtete sie mit einer Art distanzierter Neugier, gespannt darauf, was die Fremden zu erzählen hatten. Aber sie erzählten nicht viel, sie redeten nur untereinander. Und alles musste immer so furchtbar schnell gehen. Ein Auto spuckte sie aus, sie stürmten die Tische in seiner kleinen Bar, wurden unruhig, wenn Speisen und Getränke nicht schnell genug auf dem Tisch waren. Sie bezahlten schon, bevor sie zu Ende gegessen und getrunken hatten und genauso schnell wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder weg.

Er hatte versucht, ihre Sprache zu erlernen. Doch schnell merkte er, dass es zu viele Sprachen waren, die er hätte lernen müssen. Er war nur kurz zur Schule gegangen, der heimische Hof hatte seine Arbeitskraft verlangt, da blieb nicht genug Zeit. Umso schwerer tat er sich, wenigstens einige Brocken Englisch zu erlernen. Doch auch mit diesen Wortfetzen kam er nicht weit. Die Fremden waren seltsam unnahbar, sie gaben sich keine Mühe, seine Sprache zu erlernen oder seine wenigen englischen Worte zu verstehen.

Er setzte dieser Epoche seines Lebens schnell ein Ende, verkaufte die kleine Bar an einen Freund und zog sich wieder zurück auf den klein gewordenen Hof seiner Eltern. Landwirtschaft lohnte schon lange nicht mehr, man konnte nicht davon leben. Und so schaffte er sich Schafe und Ziegen an, der spezielle Käse aus dieser Region war nicht zuletzt wegen des Fremdenverkehrs sehr gefragt. Und so profitierte er dann doch wieder von den Fremden, ohne den direkten Kontakt zu einer Welt, die ihm manchmal doch recht seltsam erschien.

Die Tiere wurden seine Freunde. Sie zogen in stiller Eintracht durch die rauhe Landschaft, verweilten auf den Wiesen, die ein wenig Nahrung spendeten.

Sein Blick ging oft in die Ferne. Es sprach die Weisheit eines uralten Volkes aus seinen Augen. Manchmal trieb er seine Herde zu den alten heiligen Orten, jenen Orten, die nicht in den Reiseführern standen, die nicht von fremden Völkern entweiht wurden.
Versteckt lagen sie in den Barrancos, den weiten und uneinsehbaren Schluchten, zu denen keine Straße hinführte. Die alten heiligen Steine schienen mit ihm die alten Weisen seines Volkes zu singen. Es war ein wehmütiger Singsang, eine Melodie der Jahrtausende.

Manchmal packte ihn entgegen seiner sanftmütigen Art ein jäher Zorn auf die Eindringlinge, die vor vielen Jahrhunderten sein friedliches Volk in die Unterdrückung zwangen. Man versuchte sie zu entwurzeln, ihren Widerstand zu brechen, indem man sie auf die anderen Inseln verbrachte. Ein fast Jeder von ihnen versuchte dennoch in kleinen selbstgebauten Booten zurück zu seiner Familie, zu seinen Wurzeln zu kommen. Die Entfernung war gering, doch die See so rauh, dass viele ihre letzte Ruhe auf dem tiefen Grund des Atlantiks fanden.

Ja, und oft empfand er diese stumme Traurigkeit, dieses heftige Sehnen, zurück zur Stille, zum friedlichen Dasein seines alten Volkes. Sie hatten auch ohne die Fremden ein beschauliches Leben geführt, ohne Luxus zwar, aber sie hatten ihr Auskommen, ohne Hunger leiden zu müssen.

Oft schlief er in einer der alten verlassenen Höhlenwohnungen, wenn seine Wanderschaft mit seinen Tieren ihn zu weit von seinem Hof entfernt hatte. Sie spendeten ihm sowohl Schutz vor der Kälte im Winter als auch vor der Hitze des Sommers, so wie sie schon in der Vergangenheit ihren Bewohnern einen perfekten Schutzraum boten.

Zufrieden war er heute, allein mit sich und seinen Tieren, doch genau das war es, was ihn mit sich selbst im Einklang leben ließ.

Und wenn man ihn von Weitem über die Hügel wandern sah, hörte man einen leisen Gesang, vom Wind getragen, mitten ins Herz zielend.

Man hörte in seiner Stimme das Glück.

Autor:

Annette Kallweit aus Düsseldorf

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