Fortsetzungsgeschichte: "Im Jahr des Herrn" (Zeitinsel-Saga) - Kapitel 11

Mit dem vorletzten Kapitel "Rosannah" geht die Geschichte so langsam ihrem Ende entgegen. Viel Spaß beim Lesen wünscht

Uwe "Bully" Kirchberg

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11. Rosannah

Der ZENTAUER erreichte die Bucht der Hafen- und Handelsstadt Leptis Magna in den letzten Tagen des Monats Oktober a.D. 32. Bei der Einfahrt in den Hafen hatten sie die grauen Tarndecken über das Fratzengesicht am Bug gelegt, um nicht unnötig aufzufallen.

»Leptis Magna ist der Haupthandelshafen an der Nordküste von Tripolitanien, einem Teil der römischen Provinz Africa«, sagte Knut Haberling. Die Stadt liegt etwa 120 km östlich von Tripolis.«
»Schulwissen?« fragte Jenny Schreiber neugierig. Knut schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Sehenswert sind der severische Triumphbogen, die Thermen, das alte und neue Forum und das Theater.«
»Schön. Und woher weißt Du das alles?« Jenny Schreiber ließ nicht locker.
»Ich bin letztes Frühjahr hier gewesen, Jenny. Nein, nicht dieses letzte Jahr, sondern 2012; also nach dem Ende der Gaddafi-Ära. Leptis ist größte erhaltene antike Stadt der Welt. Schon die Ruinen waren sehenswert, aber wenn ich mir jetzt vorstelle, all diese Gebäude jetzt intakt und mit Leben erfüllt zu erleben …; Jenny, das ist einfach unvorstellbar spannend und großartig für mich!«
»Ich glaube, ich kann Dich verstehen«, nickte die blonde Sprachwissenschaftlerin und ging nach unten, um die Sachen für den Landgang zu holen. Auf der Treppe drehte sie sich noch einmal herum und sagte: »Darf ich Dich auf Deiner kleinen Wiedererkennungstour begleiten, Knut? Wir haben ja sonst nichts vor; außer vielleicht ein paar Gewürze zu kaufen.«
»Gerne«, sagte Knut und lächelte. »Ich muss nur noch die Kamera-Akkus von den Solarpaneelen holen. Dann bin ich fertig.«
»Und ich ziehe mich eben nur um«, sagte Jenny. »Bis gleich.«

*

Palast des Proconsuls, oberhalb des Hafens von Leptis Magna:

Das Gesicht der hübschen jungen Frau verzog sich erneut zu einer schmerzerfüllten Fratze und ein leises Stöhnen quälte sich über ihre Lippen. Die Mutter tupfte die glühende Stirn ihrer Tochter mit einem feuchten Tuch ab und sah zu den beiden Sklavinnen hoch, die sich bemühten, dem Körper des kranken Mädchens mit ihren großen Fächern kühle Luft zuzufächern.

Auf der Terrasse vor dem Krankenzimmer standen zwei Männer und sprachen leise miteinander. Der eine Mann war der Arzt Aesculapius und der andere Mann war der Vater des Mädchens, der römische Proconsul Habitamus Bonus.
»Deiner Tochter können nur noch die Götter helfen, Proconsul. Du solltest vielleicht einen Stier opfern …«
»Wird das Rosannah helfen?« fragte der Proconsul skeptisch.
»Die Wege der Götter sind manchmal wundersam«, sagte der Arzt. »Meine Kollegen und ich haben jedenfalls alles getan, was uns möglich war. Jetzt können nur noch die Götter helfen.«
Der Proconsul schüttelte den Kopf und sah auf den Boden: »Rosannah wird sterben, Aesculapius. Ich weiß es. Ich habe diese Krankheit schon oft gesehen und niemand konnte ihr bisher entkommen. All meine Macht und all mein Reichtum werden meinem einzigen Kind nicht helfen können.«
Der Arzt schwieg, weil er wusste, dass der Proconsul Recht hatte. Er ging wieder ins Zimmer und ließ sich von einer Sklavin eine Schale mit kaltem Wasser geben. In das Wasser gab er etwas von einer weißlichen Substanz, die er aus einer Phiole tropfen ließ. Er trat an das Bett der Kranken: »Gebt ihr das, zweimal am Tag und einmal in der Nacht.«
»Wird das meiner Tochter helfen?« fragte die Mutter. Der Arzt wich einer direkten Antwort aus: »Es wird Rosannahs Leiden lindern.«

*

Jenny und Hanna Schreiber, Knut Haberling, Urs Müller, der Kapitän und der Dicke Fitti gingen von Bord des ZENTAUER. Beim Passieren der Hafenwache zeigten sie ihre Passierscheine vor, gingen anschließend über eine kleine Brücke und standen dann vor dem prächtig verzierten Nordtor der Stadt Leptis.
Jenny Schreiber schob die Kapuze ihres Gewandes nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Turmzinnen hoch. »Beeindruckend! Gibt es diesen Turm in der Neuzeit noch?« Der Pressemensch nickte: »Ja, die Grundmauern sind noch vorhanden.« Er zeigte nach oben. »Nur die Deckenverkleidung im Durchgang gibt es 2012 nicht mehr. Das scheint mir übrigens Marmor zu sein. Leptis Magna war eine reiche Stadt.«

Nachdem sie das Stadttor durchschritten hatten, trennten sich ihre Wege. Knut Haberling und Jenny Schreiben setzt ihren Stadtrundgang fort, während die anderen Mitreisenden den Markt von Leptis aufsuchen wollten.

*

»Was gibt es dort für eine Aufregung«, fragte der Proconsul verärgert und zeigte auf das unter seinem Palast liegende Forum der Stadt. Claudius, der Adjutant des Proconsul, beugte sich vor, um Einzelheiten zu erkennen. Er sah eine Gruppe römischer Soldaten, die ganz offensichtlich große Mühe hatte, einen riesigen Mann festzuhalten.
»Ich werde es herausfinden, mein Gebieter.« Claudius salutierte, machte eine fast perfekte Drehung auf dem Absatz seines linken Stiefels und lief im Laufschritt davon.
Nur gut zehn Minuten später war er wieder da.
»Nun?« fragte der Proconsul.
»Nordmänner«, antwortete Claudius. »Germanen mit gültigen Passierscheinen. Sie sind mit einer Gruppe der hier ansässigen Tripolitaner in Streit geraten, die eine widerspenstige Sklavin züchtigen wollten. Der große Dicke hat drei Tripolitaner niedergeschlagen, der anderer Mann zwei. Erst die Wache konnte die tobenden Nordmänner davon abhalten, die Tripolitaner weiterhin daran zu hindern, mit ihrem Eigentum so zu verfahren, wie die Tripolitaner es zu tun wünschen.«
»Sie haben das Recht, ihre Sklaven zu züchtigen«, bestätigte Proconsul Habitamus Bonus. »Veranlasse, dass die Nordmänner eingesperrt werden und ihnen der Prozess gemacht wird. Als Proconsul dieser Provinz ist es nicht nur meine Pflicht, die Interessen Roms zu vertreten, sondern auch die Interessen der hier ansässigen Bürger Roms.«
Der Adjutant salutierte, machte wieder eine fast perfekte Drehung auf dem Absatz seines linken Stiefels und lief erneut im Laufschritt davon.
Kurze Zeit später wurden Hanna Schreiber, Urs Müller. Kapitän Hansen und der Dicke Fitti von den Soldaten der Stadtwache abgeführt.

»Wo bringt man diese Leute hin?« fragte Jenny Schreiber eine Frau, die neben ihr in einer Gasse am Rand des Forums stand und die Szene ebenso beobachtet hatte, wie Jenny und Knut.
»Ins Amphitheater. Dort finden die Gerichtsverhandlungen statt und dort werden auch die Urteile vollstreckt.«
»Gerichtsverhandlung?« fragte Jenny erschrocken. »Welche Strafen drohen ihnen denn?«
»Kommt auf die Laune des Proconsuls an«, antwortete die Frau. »Wahrscheinlich 20 Peitschenhiebe für die Frau. Die Männer werden ihren Mut wohl gegen die Löwen in der Arena beweisen dürfen. Oder gegen ein paar Gladiatoren …«

Knut griff der kalkweiß gewordenen Jenny unter die Arme und drückte sie in die Dunkelheit einer Hausnische.
»Was der Dicke Fitti da getan hat, ist nach römischem Recht eine schwere Straftat. Kein Fremder darf einen Bürger Roms niederschlagen …«
»Aber Fitti hat doch nur der jungen Frau helfen wollen, die von diesen Arabern geschlagen worden ist. Hätte er nicht eingegriffen, hätten die Araber die Frau totgeschlagen.«
»Was sie nach römischen Recht gedurft hätten, denn die junge Frau ist eine Sklavin und gehört ihnen. So wie ein Möbelstück.«
»Unglaublich …«, stöhnte Jenny.
» … aber wahr.« betonte Knut
»Was machen wir jetzt?« fragte Jenny.
»Wir sollten schnellstens zum Schiff zurück und uns mit Hilmar und Lechti beraten. Vielleicht haben die beiden alten Hasen eine Idee.

Auf dem Schiff erzählten sie Hilmar und Lechti, was passiert war. Hilmar schien besonders betroffen zu sein, denn er schwieg lange und sagte dann leise: »Wir können versuchen, sie freizukämpfen, aber eine Gewähr, dass sie das überleben, gibt es nicht.«

*

Die Nacht des Neumonds war tintenschwarz und die wenigen Fackeln vor dem Gebäude reichten nicht aus, um den Vorplatz zu erhellen. Und so kam es, dass niemand die beiden dunkel gekleideten Männer sah, deren Gesichter schwarz gefärbt waren und die sich leise und vorsichtig den Kerkern des Amphitheaters näherten.
Als irgendwo ein Rascheln ertönte, verharrten die beiden Körper in absolutem Stillstand und bewegten sich erst Minuten später weiter – langsam, vorsichtig und leise.

*

Der nächste Morgen:

Man hatte sie in den Arrestzellen relativ gut behandelt; alle hatten ausreichend Wasser bekommen und auch etwas Brei als Morgenmahlzeit. Doch nachdem man sie aus den Zellen geholt hatte, wurden sie grober angefasst. Man hatte ihnen die Füße gefesselt, sie aneinander gekettet und in die Arena getrieben. Erst als das Verhör begann und der Ankläger die Loge betreten hatte, löste man die Ketten.
Der Ankläger begann: »Ich bin Habitamus Bonus, Proconsul der Provinz Africa. Erster Ankläger und alleiniger Richter. Ihr werdet folgender Verbrechen beschuldigt: Aufruhr und gemeinschaftliche Gewalt gegen fünf römischen Bürger. Zwei dieser Bürger schweben noch in Lebensgefahr und nur die Götter wissen, ob sie den morgigen Tag noch erleben werden …«
Unsinn! dachte Hanna. Die haben ein paar blaue Flecken, vielleicht ein paar Zähne locker. Keinesfalls mehr.

Während der Proconsul den weiteren Anklagetext verlas, sah sich Hanna um. Links und rechts standen acht schwer bewaffnete Wachsoldaten. Vor ihr, in der Loge, saßen neben dem Proconsul in seiner gold verzierten weißen Toga noch zwei ranghöhere Soldaten sowie ein alter Mann in einer weißen schmucklosen Toga. Vielleicht ein Priester? Oder ein Rechtsexperte? Keine Ahnung. Auf den Tribünen sah sie nur wenige Leute sitzen; vielleicht insgesamt 20 Personen.

Das Verhör begann und der Dicke Fitti wurde als Erster vor das Gremium geführt. Er befeuchtete die Spitzen von Zeigefinger und Daumen und drehte die Enden seines gewaltigen Schnurrbartes auf. Dann hob er den Kopf, drückte den Rücken durch und begann mit lauter und fester Stimme:
»Mein Name ist Friedhelm Kohlschreiber und ich komme aus einem fernen Land im Norden. Dort habe ich es mein ganzes langes Leben lang so gehalten, dass derjenige, der eine wehrlose Frau schlägt, von mir eins auf die Fresse kriegt. Das galt in den 60 Jahre meines Lebens am Rhein und das gilt auch noch jetzt und hier! Und wenn ich das nächste Mal so einen Pasellacken erwische, der eine Frau schlägt, dann prügele ich den solange durch, dass er nie wieder eine Frau auch nur schief ankuckt. Ist das klar genug?«
»Das war klar genug, Fitti«, flüsterte Hanna, »und schön, dass Du das auf Deutsch gesagt hast. So hat es hier keiner verstanden und das ist auch gut so. Ich übersetze dann mal …«
Hanna Schreiber erhob sich und sah den Proconsul an: »Mein Freund ist mit den Gesetzes des römischen Reiches leider nicht so vertraut, wie es ihm als Gast geziemt, Proconsul. Ich weiß, das ist unverzeihlich, aber bitte bedenkt: In unserem Land gibt es keine Sklaverei und dort hat jeder Mensch das Recht, sich gegen Gewalt zu verteidigen. Ist dieser Mensch selbst zu schwach, sich zu verteidigen, dann ist es die Pflicht jedes anderen Menschen, diesem Schwachen beizustehen. Insbesondere dann, wenn dieser schwache Mensch eine junge Frau ist, die Friedhelm Kohlschreibers Tochter sein könnte …«
Hanna hatte bemerkt, dass der Proconsul bei dem Wort „Tochter“ zusammengezuckt war und zu der Frau hinüber gesehen hatte, die gerade herein gekommen war und am Tor wartete.
Die Tochter ist das nicht, zu alt, könnte die Mutter sein, dachte Hanna und riskierte einen Schuss ins Blaue: »Und wenn ihr selbst eine Tochter habt, Proconsul; in dem Alter der jungen Sklavin vom Forum - würdet Ihr sie nicht auch verteidigen wollen, gegen die Unbillen des Lebens?«
Hanna sah, dass die Frau die Hände vor ihr Gesicht schlug, während die Gesichtszüge des römischen Provinzfürsten entgleisten. Hanna ahnte, dass sie auf dem richtigen Wege war und wollte gerade nachlegen, als die Welt um sie herum unterging …

*

Die Heul- und Blendgranaten, das direkt gegen die Soldaten eingesetzte Tränengas und die richtig platzierten Sprengsätze hatten die Arena kurzzeitig in den Vorhof der Hölle verwandelt. Mitten in das ausgelöste Chaos erhoben sich die beiden ehemaligen Angehörigen des Sondereinsatzkommandos brüllend aus den in der Nacht gegrabenen Löchern im Sand der Arena, sprangen auf, rissen die riesigen Messer aus den Scheiden und schnitten die Fesseln der Gefangenen auf.
»Dorthin! Los!« brüllte Lechti Müller und zeigte auf eine Stelle an der Tribüne, wo einer ihrer Sprengsätze ein großes Loch gerissen hatte. Kapitän Hansen und Hanna Schreiber begriffen sofort und rannten los, während der Dicke Fitti offensichtlich auf etwas wartete. Lechti herrschte ihn an: »Steh nicht rum, ab zum Schiff!«
»Der Krach hat die halbe Legion alarmiert. Das schaffen wir nicht bis zum Hafen. Wir brauchen eine Geisel.«
»Geiselnahme? Mit mir nicht. Vergiss es!« schimpfte Lechti Müller, doch sein Freund Hilmar widersprach: »Fitti hat Recht. Mit einer Geisel erhöhen sich unsere Chancen.«
»Von mir aus«, knurrte Lechti widerwillig und sprang auf die kleine Loge, wo der Proconsul mit den Nachwirkungen des Tränengases kämpfte. Er packte Habitamus Bonus am Kragen seiner Toga und riss ihn hoch. »Du kommst mit!«
»Nein, nehmt mich. Sein Herz ist schwach. Ich bin die Frau des Proconsul und niemand wird Euch etwas tun, solange ich in Eurer Gewalt bin«, sagte eine Stimme neben Lechti. Er drehte sich um und sah die Frau an. Dann nickte er und zeigte auf das Loch in der Arenawand, durch das die anderen bereits gerannt waren. »Es geht zum Hafen.« Die Frau nickte stumm und ließ sich widerstandslos mitnehmen.

Dank ihrer Geisel schafften sie es bis zum Schiff und man folgte ihnen auch nicht, solange sich die Frau des Proconsuls sich an Bord des ZENTAUER aufhielt.

*

Palast des Proconsuls, zwei Tage später:

Die Frau in dem weißen Kapuzenmantel trat an das Bett des kranken Mädchens. Sie schob die dünne Decke beiseite und spreizte ihre rechte Hand. Den Daumen legte sie in den Bauchnabel des Mädchens, während der kleine Finger den rechten Beckenknochen der Frau suchte. Als er ihn gefunden hatte, nahm die Frau ihre linke Hand und drückte den Daumen in der Mitte der anderen Hand leicht in den Körper des Mädchens. Als die junge Frau aufschrie, erschien ein Lächeln auf dem Gesicht der Besucherin. Sie drehte sich zu den anderen beiden Personen um und sagte: »Ich brauche das große Besteck, Urs. Es ist tatsächlich nur der Blindarm und Du assistierst mir.« Urs Müller schob seine Kapuze nach hinten, nickte und packte die beiden großen Taschen aus, die sie vom Schiff mitgenommen hatten.
Zu der zweiten Person sagte Hanna Schreiber: »Eure Tochter wird wieder gesund, Sarisana. Geh jetzt und informiere Deinen Gatten. Sorge dafür, dass wir hier ungestört arbeiten können. Und rufe den Arzt, damit ich ihm sagen kann, was nach der Operation zu tun ist. Die Wunde muss jeden Tag mit einem Mittel, das ich ihm geben werde, gereinigt werden und in 20 Tagen soll er die Fäden ziehen.«
Die Frau des Proconsuls löste den Schal, der ihre Haare bisher verborgen hatte und trat an das Bett ihrer Tochter. Sie strich ihr noch kurz über die dunklen Haare und verließ dann den Raum. Kurze Zeit später hörte man ein kurzes und heftiges Wortgefecht, bei dem Sarisana offensichtlich das letzte und endgültige Wort hatte: Wenn Rosannah überleben würde, hätten sie alle nichts mehr zu befürchten: Der Proconsul würde alle Angeklagten unverzüglich begnadigen. Hanna und Urs hatten von Sarisana ohnehin freies Geleit zugesagt bekommen.

Am folgenden Tag:

Die Operation war gut verlaufen und Hanna strich ihrer Patientin noch einmal kurz über die Haare. Rosannah ging es heute schon sichtlich besser. Hanna sah zu Rosannahs Eltern hinüber, die beide am Fußende der Liege standen und sagte: »Ich habe den Arzt instruiert; er weiß, was zu tun ist und wann er die Fäden ziehen muss. Gebt Rosannah ab dem morgigen Tag so viel zu trinken, wie sie mag. Essen aber erst in 5 Tagen.«
»Wir danken Dir«, sagte der Proconsul leise. Hanna sah überrascht auf, weil Habitamus Bonus bisher nur geschwiegen hatte, doch der Proconsul sorgte noch für eine weitere Überraschung. Er sagte: »Und ich möchte, dass Du Deinen Freunden meine Entschuldigung übermittelst. Für das Verhalten der Soldaten …, und für mein Verhalten. Du musst wissen, es gärt im Römischen Reich. In Judäa hetzen Juden gegen Rom und rufen offen oder versteckt zum Widerstand auf. Auch in der Provinz Africa gibt es Widerstände. Hier und anderswo. Die Führer der Provinzen haben Anweisung erhalten, hart durchzugreifen. Die Anweisung kam direkt vom Kaiser; sie trägt sein Siegel.«

Hanna nickte nur wortlos und verabschiedete sich von der Familie des Proconsul. Ein Wagen brachte sie und Urs zum Hafen, wo der ZENTAUER schon auf sie wartete.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang löste Lechti Müller die Taue und Käpt´n Hansen steuerte das Schiff aus dem Hafen.

*

Sechs Tage später:

Der ZENTAUER hatte zwei seiner Passagiere im Morgengrauen im Hafen von Alexandria, der Stadt Alexanders des Großen, von Bord entlassen und danach sofort wieder abgelegt. Jenny Schreiber und Knut Haberling winkten ihren Freunden noch kurz zu, wandten sich dann aber ab und gingen auf die römischen Soldaten der Hafenwache zu. Sie zeigten ihre Passierscheine vor und konnten ihren Weg fortsetzen, der sie in die legendäre Bibliothek der Antike führen sollte.

»Soviel ich gelesen habe, soll der Zugang zu den Dokumenten der Bibliothek allen Menschen offen stehen«, sagte Knut Haberling. »Ob sie auch Kopien haben?«
»Wahrscheinlich ja, denn es soll viele Lehrlinge gegeben haben, deren Hauptaufgabe es gewesen ist, wichtige Dokumente abzuschreiben, die die Bibliothek sich ausgeliehen hat. Ob wir solche Kopien erwerben können, weiß ich natürlich nicht, aber für alle Fälle haben wir ja immer noch unsere kleinen Digitalkameras dabei. Wenn wir vorsichtig sind …«

Nach etwa einer halben Stunde Fußweg hatten sie den Eingang der Bibliothek erreicht. Der Bau war riesig und zog sich im Stil eines altägyptischen Tempels über mehrere Straßenzüge hin. Jenny und Knut durchquerten die beiden mächtigen Türme am Eingang und traten in den ersten offenen Innenhof. Dort saßen, auf steinernen Bänken, junge Menschen - wahrscheinlich Studierende der örtlichen Universität. Das brachte Jenny auf eine Idee. Sie sprach einen der weißgekleideten Menschen an, der am Zugang zu den hinteren Bereichen der Bibliothek stand: »Mein Freund und ich sind Studierende der Universität von Duspergum in Germanien. Wir interessieren uns besonders für griechische Schriften.«
Der Weißgekleidete schien von einer solchen Universität noch nicht gehört zu haben, antwortete aber trotzdem freundlich: »Schön, dass die römische Bildung sich jetzt auch bis ins ferne Germanien ausgebreitet hat. Wendet Euch bitte an den verehrten Thrasos; er verwaltet die griechischen Schriften. Ihr findet ihn in der zweiten Halle zur Rechten, direkt hinter den thrakischen Säulen.«
Jenny verneigte sich leicht, um ihren Dank auszudrücken, dann nahm sie Knut Haberling an den Arm und zog ihn weiter.

Der Bibliothekar Thrasos entpuppte sich als kleiner freundlicher Mann griechischer Abstammung. Als er hörte, woher Jenny und Knut kamen und welche Dokumente sie einsehen wollten, legte er einen ungeheuren Eifer an den Tag. »Bei unseren Studenten ist die griechische Übersetzung eines jüdischen Dokuments im Moment sehr populär, das den Titel „Septuaginta“ trägt. Es ist leicht zu lesen, da es in griechischer Sprache verfasst, aber in lateinischen Buchstaben geschrieben ist. Außerdem sind die Schriften des ehrwürdigen Aristoteles sehr gefragt - übrigens einer meiner Vorfahren. Ich suche Euch gerne heraus, was Ihr wünscht. Ihr könnt die Rollen im vorderen Hof studieren, das machen alle so. Da ist das Licht besser.«

Sie verbrachten viele Stunden in der Bibliothek, trugen unzählige Dokument-Rollen in den hellen Lichthof, sichteten sie und fotografierten alles, was ihnen interessant erschien.
»Wenn wir nur mehr Zeit hätten. Eine Woche vielleicht …«, sagte Knut beim Überfliegen eines Papyrus, »dann könnten wir alles abfotografieren. Überleg mal, Jenny. Die ganzen Schätze, die hier lagern und die später in Kriegswirren verloren gehen oder die beim Brand der Bibliothek für immer vernichtet werden.«
»Du hast Recht, Knut. Allein die Septuaginta, die ich hier in den Händen halte, ist eine Sensation. Das ist das Hohe Buch der Juden und gleichzeitig das, was wir Christen das Alte Testament nennen. Oder dieses seltsame Werk hier. Eine Art Karte, die den ganzen Norden von Afrika zeigt. Wie aus einem Flugzeug oder Raumschiff heraus fotografiert. Unfassbar! Ägypten bis hinunter zu den Nilquellen. Und …«, sie zeigte auf die marokkanische Küste, »auch hier ist die verschwundene Stadt eingezeichnet.«
»Wie lautet denn der Titel des Dokuments?« fragte der Pressemann. Jenny zuckte mit den Schultern und zeigte auf den unteren Rand des Papyrus: »Da sind nur ein paar Hieroglyphen, deren Bedeutung nicht einmal der Bibliothekar kannte; er sagte nur etwas von einer alten Abschrift eines uralten Dokuments. Noch vor der ersten Dynastie.«
»Das ist dann aber wirklich alt«, sagte Knut Haberling. »Über 3.000 Jahre vor unserer Zeit; vor unserer jetzigen Zeit wohlgemerkt. Also 3.000 v. Chr.«
»Altes Wissen, Knut«, sagte Jenny, »sehr altes Wissen. Aus einer Zeit, aus der im 21. Jahrhundert keine Aufzeichnungen mehr existieren.«
»Manche Menschen sagen, es habe schon früher Hochkulturen gegeben«, sagte Knut. »Noch vor den Ägyptern.«
»Das mag sein, aber es existieren keine Aufzeichnungen und es gibt auch keine Relikte. Aber so leid es mir tut, Knut …«, Jenny sah zu der untergehenden Sonne hinüber, »es wird so langsam dunkel. Wir müssen das hier gleich beenden und uns auf den Weg zum Hafen machen. Kapitän Hansen wartet nicht gern.«
»Moment. Nur noch dieses eine Foto, Jenny«, antwortete Knut und ließ den Auslöser seiner kleinen Canon klicken. Dann nickte er und rollte das Dokument zusammen. Gemeinsam brachten sie die zuletzt gelesenen Rollen zurück zu ihrem Bibliothekar, dankten ihm herzlich und verabschiedeten sich dann.

Eine halbe Stunde später erreichten sie den Hafen und bestiegen den bereits wartenden ZENTAUER.

(Fortsetzung folgt)

Autor:

Uwe Kirchberg aus Duisburg

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