Fiasko der Vorzeige-Integranten oder: Warum die Kritik an den Fan-Pfiffen eine Frechheit ist

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Heute beginnt die WM – doch Fußballdeutschland diskutiert kontrovers über die Pfiffe der Fans an die Adresse von Özil und Gündogan. Dabei sind die lautstarken Unmutsbekundungen nicht etwa Auslöser sondern lediglich Symptom einer handfesten Stimmungskrise, die die Verantwortlichen partout nicht wahrnehmen woll(t)en. Bis heute sind die Verursacher eine tragfähige Erklärung schuldig geblieben. Diese Tatsache, wie auch der Umgang mit Volkes Stimme offenbaren, wie weit der DFB und manches Medium sich von der Basis entfernt haben. Und das lässt eine weitere Zuspitzung befürchten.

Pünktlich zum größten Ereignis seiner Sportart hat der Deutsche Fußball ein Stimmungsproblem. "Erdogate" überlagert alles. Das denkbar schlechte Timing ist Resultat eines denkbar schlechtes Managements. Denn was für den oberflächlichen Betrachter so aussieht, wie ein plötzlich gewachsenes Problem, war von Beginn an ein großes. Nur wurde das nach Kräften ignoriert von denen, die daran etwas hätten ändern können. Die neuste Entwicklung der öffentlichen Betrachtung verschärft die Situation sogar noch weiter, indem sie den zahlenden Kunden an den Pranger stellt. Doch die Pfeifen der Nation sind in dem Falle nicht die Pfeifenden. Denn die Empörung der Menschen ist nachvollziehbar und legitim und zwar aus mehreren gewichtigen Gründen.

Handfester Loyalitätsbruch

Die Hof-Besuch beim Türkischen Präsidenten Erdogan durch die Deutschen Nationalspieler Özil und Gündogan hat eine dermaßen mehrdimensionale und komplexe Problematik, dass sie nicht einfach als "Geste der Höflichkeit" abgetan werden kann, als die man sie versuchte, dem gemeinen Fußballvolk zu verkaufen. Es war vielmehr ein handfester Loyalitätsbruch in einem verschärften Fall: Denn es handelt sich dabei nicht um irgendeinen Vertreter irgendeines Landes, sondern um den Regierungschef, dessen Politik und Wertekanon in so ziemlich allen Bereichen den hiesigen diametral entgegensteht, und der gleichzeitig auch noch die Deutungshoheit über Millionen Deutsch-Türken beansprucht. So weit, so schlecht.
Noch schlechter wurde es durch die "Reaktion" des DFB. Von vornherein wurde klargestellt: Keine Bedingungen, keine Sanktionen. Während alle verfügbaren Umfragen zeigten, dass die Mehrheit der Fans Konsequenzen erwartete, verriet der Bundestrainer "nicht eine Sekunde daran gedacht" zu haben. Damit wurde das Thema zu den Akten gelegt, noch bevor es überhaupt angegangen wurde. Ein Thema wohlgemerkt, das die Fans von Anfang sehr bewegt hat und sie eine klare Haltung dazu hatten, wie schon flüchtige Blicke auf Umfragen, in Foren oder soziale Netzwerke zeigten. Doch die deutlichen Stimmungsbilder wurden geflissentlich ignoriert beziehungsweise übergangen, weggedrückt und mit arroganter Leichtigkeit kleingeredet.

Fehlende Aufarbeitung

Die wenig überraschenden Folgen: Bis heute fehlt seitens der betroffenen Spieler eine klare Stellungnahme: Es gibt keine Entschuldigung, keine Reue, geschweige denn eine Distanzierung oder ein Fehlereingeständnis. Stattdessen verweigert sich der eine der öffentlichen Stellungnahme komplett, und der andere geht in die Opferrolle. Die Fans, und nicht nur die, fragen sich zurecht: Warum sprechen Fußballer in Vorbildfunktion einem Politiker Respekt aus, der das Land, für das sie spielen (und das sie groß gemacht hat), genau so wenig respektiert, wie die Menschenrechte? Wenn das offen bleibt und sogar noch von einer persönlichen Widmung für "meinen Präsidenten" und gemeinsamen offensichtlichen Wohlfühl-Fotos begleitet wird – übrigens von Spielern, die gegenüber den Nationalfarben ihres Trikot ansonsten eher kühl unterwegs sind - dann ist Misstrauen gegenüber der Identifikation der beiden nicht verwunderlich.
Im Fußball, der sehr von Identifikation lebt, wäre sowas schon bei einem Vereinsteam äußerst problematisch. Bei einer Nationalmannschaft dürfte es das naturgemäß nicht weniger sein. Erschwerend kommt hinzu: Hierbei handelt es sich um zwei Spieler, die über Jahre hinweg - regelrecht als Integrationsbotschafter - besonders unterstützt und hofiert wurden. Wenn die sich dann öffentlich und emotional einem anderen Land zuwenden, dann ist das eben auch besonders enttäuschend.

Aus Unzufriedenheit wird geäußerter Unmut

Zusammengefasst gibt es also ein belastendes Thema und einen erkennbaren Unwillen der Beteiligten, es ehrlich auszuräumen. Da darf sich doch keiner beschweren über anhaltende beziehungsweise wachsende Unzufriedenheit. Genau das aber taten die Verantwortlichen vor dem Saudi-Arabien-Spiel. Da wurde das Problem-Thema kurzerhand für beendet erklärt. Klar, dass die Fans den Eindruck haben mussten, nicht gehört zu werden, also verschafften sie sich Gehör. Klares Statement aus dem Block: Wir lassen uns nicht bevormunden! Warum auch Ruhe geben, wenn ein Konflikt nicht gelöst ist? Wer sich nur halbwegs auskennt, weiß aber: Auch Pfiffe sind Emotionen. Das bedeutet auch und gerade für die Absender von Unmutsbekundungen: "Die Mannschaft" ist den Fans alles andere als gleichgültig.
Doch auch das wurde vom DFB falsch interpretiert. Trainer, Manager und Spieler reagierten hernach zunehmend gereizt. Und der übrigens auch bei Freundschaftsspielen ganz ordentlich zahlende Zuschauer wurde plötzlich zum Sündenbock. Aus allen Richtungen – von Merkel bis Vogts - prasselten nun als gut gemeinte Ratschläge getarnte "Schlussstrich"-Forderungen auf die kritischen Fan-Geister ein.

Unsachliche Kritik an mündigen Fans

Im Angesicht der nun immer stärker zutage tretenden Missstimmung, und wohl in damit verbundener Sorge um Auflagen und Umfänge, nahmen nun auch mehrere sogenannte Leitmedien den kritischen Fan ins Visier. Wie plump und unseriös sie dabei auf den "jetzt ist aber mal gut"-Zug der DFB-Verantwortlichen aufsprangen, zeigt sich in der Vorgehensweise. Eine differenzierte Ursachenforschung wurde stellenweise ersetzt durch eine (einzige!) kontrafaktische Unterstellung: Rassismus.
So erschreckend argumentfrei diese Anwendung in diesem Zusammenhang möglich ist*, so sehr hält ihre Botschaft Einzug in die öffentliche Diskussion. Ohne ihn begründen zu müssen (und wahrscheinlich auch zu können), überzieht man mündige Fans pauschal mit einem sehr schwerwiegenden Vorwurf und schlägt damit die Debatte nieder, was ist im Zweifel bequemer ist, als über die wahren Beweggründe nachzuhorchen, weil dabei die "Gefahr" besteht, dass unangenehme Antworten auf den Tisch kommen. Was hängen bleibt, ist der mehr oder weniger offene Vorwurf, jemand würde kritisiert, weil er Migrant ist.
Die Konsequenz daraus: Um diesem üblen Verdacht nicht ausgesetzt zu sein, bleibt irgendwann als einzige Möglichkeit der Verzicht auf entsprechende Kritik. Und das wäre das glatte Gegenteil dessen, was unterstellt wird: Weil jemand Migrant ist, darf er nicht kritisiert werden. Ein gefährlicher Doppelstandard, der die Beteiligung an einer Konfliktlösung verhindert.

Doppelmoral des DFB

Dem Verdacht der Doppelmoral muss sich in der "Erdogan-Affäre" auch der DFB stellen. Ausgerechnet jener Verband also, der ansonsten Fan-Plakate und Choreographien engmaschig kontrolliert, Abläufe haarklein plant, und seit Jahren auch den zufälligen Zuschauer ungefragt mit aufwendigen Image-Filmen penetriert, schaut tatenlos zu, wenn zwei seiner Top-Repräsentanten den mühsam aufgebauten Markenkern mit Füßen treten. Dabei hat der DFB durchaus eine stattliche "durchgreifende" Tradition, nachzufragen bei den Herren Stein, Effenberg, Kruse oder Kuranyi.
Den offenkundigen "Haltungs"-Schaden des DFB offenbart Oli Bierhoff in nur einem Satz: „Man muss verstehen, wie Türken ticken.“ Eine Aussage, die es verdient, sich auf der Zunge zergehen zu lassen. Der Manager der Deutschen Nationalelf sagt damit: Selbst als vorderste Repräsentanten Deutschlands bleiben Özil und Gündogan Türken. Und wenn die anders ticken und infolgedessen auch handeln, als das unserer Philosophie entspricht, dann muss man das verstehen. Das ist genau das Gegenteil von Integration. Und damit sendet ausgerechnet der Integrations-Vorreiter DFB ein geradezu verheerendes Signal aus, nicht nur für die zahlreichen fußballbegeisterten Migranten-Kinder, wenn ihre Idole Özil und Gündogan signalisieren: Es ist völlig in Ordnung, die Freiheit und die Annehmlichkeiten in Deutschland zu genießen, ohne sich zur gemeinsamen Gesellschaft zu bekennen.

Erdogan-Affäre als Spiegel gesellschaftlicher Spaltung

Anders ausgedrückt: Deutschland heißt Karriere, aber Herz und Heimat sind Türkei.
Das ist nichts anderes als das „OK“ für eine gesellschaftliche Spaltung. Nicht unwahrscheinlich, dass genau hier der Schlüssel zum Unmut über die „Erdogan-Affäre“ liegt, denn das dürfte vielen auf unangenehme Weise die oft weniger guten Integrations-Erfahrungen ihrer Lebenswirklichkeit widerspiegeln – und die Umstände deren Entstehung erklären.
Dabei schien die Nationalmannschaft doch lange Zeit anders zu sein. Sie stand für die Verheißung einer gelingenden Einwanderungsgesellschaft. Ein Team, das so ist, wie man sich ein ganzes Land wünscht: Entscheidend ist nicht, wie du aussiehst und wo du herkommst, sondern was du tust und wo du hin willst. Ganz unterschiedliche Menschen machen gemeinsame Sache. An dieser Stelle ist festzuhalten: Für ganz viele Spieler trifft das nach wie vor zu, und zwar nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern auf unzähligen Sportplätzen dieser Republik, in Amateur- und Jugendmannschaften.

Beschädigung der vorbildlichen Integrations-Idee der Nationalelf

All diese kleinen und großen Erfolgsgeschichten sind genau wie die Idee "der Mannschaft" durch zwei ihrer eigentlichen Protagonisten massiv beschädigt worden. Und da ist es leider so, wie im wahren Leben: Zwei faule Äpfel reichen, um die ganze Kiste zu verderben. Özil und Gündogan sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden und haben damit Vertrauen zerstört. Und Herr Bierhoff, da widerspreche ich Ihnen, dafür muss man kein Verständnis haben!
Genauso wenig übrigens, wie für die Figur, die der DFB insgesamt in dieser Sache macht. Ein Verband mit hohem Haltungs-Anspruch auf allen Ebenen, der es, wenn es darauf ankommt aber nicht schafft, seine sorgsam definierten Werte zu verteidigen. Wer will da dem Fan verdenken, wenn er nun "die Mannschaft" als Mogelpackung betrachtet, als eine inhaltslose Image-Kampagne, als Marketinginstrument, als bloße Inszenierung, als Versprechen ohne Einlösung?

Nachhaltiger Glaubwürdigkeitsverlust droht

Der Deutsche Fußball hat entscheidend Glaubwürdigkeit verloren. Und die bemisst sich nicht in Toren und Titeln und wird durch diese auch nicht 'mal eben schnell wieder hergestellt. Von Spielern der Nationalmannschaft in der Tradition eines Fritz Walter, Uwe Seeler oder Bernard Dietz, darf man erwarten, dass sie für sich und für ihr Team (also auch für ihr Handeln) Verantwortung übernehmen.
Wer im Stadion klatschen - , Trikots tragen - und Fan-Artikel kaufen soll, der darf von den seine Farben tragenden Protagonisten zumindest volle Identifikation erwarten. Und als Repräsentanten ihres Landes darf man auch von ihnen erwarten, dass sie sich zweifelsfrei zu diesem ihrem Land bekennen.

Fans als Hoffnungsträger

Wenn all das in Zweifel steht, dann ist es mehr als das gute Recht der Fans, ihre Meinung kundzutun und ihre Ansprüche einzufordern. Und genau damit sind seine Fans in der momentan misslichen Lage Deutschlands wahrscheinlich größter Trumpf: Mündige Fans mit Haltung und feinem Gespür, für das, was falsch läuft. Wer versucht, ausgerechnet sie auch nur in Mithaftung der aktuellen Stimmungskrise zu nehmen, und davon eine womöglich erfolglose WM abzuleiten versucht, liegt komplett daneben. Die Schuld an der Entwicklung verantworten alleine die Spieler mit ihrer Aktion und der bis heute bestenfalls halbherzigen Abkehr davon, und die Verantwortlichen des DFB mit ihrem ungenügenden Krisenmanagement.
Letzteren kann man nur dringend raten, die Fans, ihre Pfiffe und die dahinterstehende Enttäuschung endlich ernst zu nehmen, und daraus Konsequenzen zu ziehen. Sonst droht sich jenes Bild zu verfestigen, das die Nationalelf als Aushängeschild des Deutschen Fußballs aktuell abgibt: Eine schein-heile und scheinheilige Hochglanzwelt, abgekoppelt von der Basis. Und dieser Schaden würde weit über die WM hinausgehen – und zwar unabhängig vom Abschneiden.

Autor:

Mark Zeller aus Duisburg

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