die kleine Meise - Abenteuer im Winterwunderland

„Ihh, Mama, was ist das für ein fieses, weißes Zeug? Ich krieg kalte Füße davon. Was ist das?“
Die kleine Meise versuchte, sich näher bei der Mutter einzukuscheln, aber die schlug ärgerlich mit dem Flügel: „Weg, du bist doch schon groß. Was soll das Gezicke? Bist du eine starke Kohlmeise oder was? Das ist Schnee. Eigentlich solltest du das wissen. So was hat man in den Genen. Und jetzt hör auf zu heulen und flieg los und guck, wo unsere Menschen Futter ausgebracht haben. Achte auf runde Knödel oder längliche Fettpfannen. Meistens hängen sie im Flieder oder in der Magnolie – wie, du weißt nicht, welcher Baum welcher ist? Hab ich dir das nicht im August beigebracht? Hast du alles wieder vergessen? Nee, nee, was mach ich nur mit so einer Trantüte!“

„Aber Mama, alles sieht so gleich aus“, jammerte die kleine Meise, „ich hab auch schreckliche Angst, dass ich untergehe und dann finde ich dich nie mehr wieder.“

Wir können darauf laufen“, die alte Kohlmeise hüpfte demonstrativ auf der weißen, weichen Matte auf und ab. „Siehst du? Wir gehen nicht unter. Du kannst höchstens bis zum Knöchel einsinken, das ist alles. Aber Tante Soffie, die alte Krähe, und die eingebildeten Amseln, die uns im Sommer nie Platz machen und uns nicht die Laus am Stamm gönnen, die können schon einsinken! Hihihi! Die schon! Du hast doch bestimmt gesehen, wie dick vermummt die rumlaufen. Überhaupt keine Taille mehr. Also ich, ich würd mich ja schämen! Die sind so was von empfindlich! -
Aber was ich sagen wollte, Kind, flieg einfach los und schau in jeden Baum. Aber vielleicht sind unsere Menschen ja auch noch gar nicht so weit, dass sie an Winterfutter für unsereins denken. Manchmal sind die schon sehr verschnarcht. Aber andererseits, kam ja auch echt früh und überraschend dieses Jahr, der verdammte Winter. – Also los, Kind, und - Halt! noch was Wichtiges! Nimm dich in Acht vor dem Buntspecht. Ich habe ihn gestern gehört, der scheint sich diesen Winter in unserem Revier einzunisten. Dieser Vielfraß geht immer an unsere Knödel und frisst uns alles vor der Nase weg. Mit dem ist nicht zu spaßen. Also, aufpassen!“

 Die kleine Meise flog los und nahm Kurs auf den Sommergarten, in dem sie geboren worden war. Nur sah der heute völlig anders aus. Alles voll von diesem komischen Schnee. Da sollte sich noch einer auskennen. „Hallo? – hallo?“ Leise rief sie in die weiße Stille hinein.
Unter dem großen Lorbeer schauten zwei dicke, schwarz vermummte Amseln heraus: „hau ab! Ist noch kein Futter da.“
„Doch, die Alte hat das nur noch nicht mitgekriegt", piepste ein kleines Stimmchen. "Der muss man das Futter auf dem Silbertablett servieren, bevor die was merkt. Komm her, hier im Flieder sind wir alle.“

Aus dem weißen Puderbaum hörte der kleine Vogel leise Stimmen, und als er sich vorsichtig auf das kalte Weiß setzte, sah er durch die Zweige in die Gesichter seiner Freunde und Verwandten. „He, was ist los? Wieso seid ihr alle zusammen hier?“
„Na, um zu fressen, natürlich. Du wirst dich noch wundern, wen du demnächst alles hier im Garten sehen wirst. Sie kommen von nah und fern, wenn sie Kohldampf haben. Da sind Kameraden dabei, die hast du noch nie im Leben gesehen, in allen Farben, sag ich dir!“

Die keine Meise näherte sich dem pendelnden Knödel, aus dem es verführerisch duftete. „Geh mal weg!“ piepste sie, „lass mich auch mal! Ich hab so was noch nie gefressen.“
Aber in dem Moment, als sie sich in das grüne, klebrige Netz krallte und den Schnabel spitzte, ertönte ein Schrei: „der Specht! Der Specht! Bringt euch in Sicherheit!“
„Aber der tut doch nix“, beruhigte die tiefe Stimme einer Amsel, die unten auf dem Schneeboden nach Krümeln suchte, „der tut nix. Allerdings," ein klein wenig Gehässigkeit schlich sich in ihre Stimme: „ solltet ihr ihm schleunigst Platz machen. Der versteht keinen Spaß, wenn er da so einen kleinen Wicht an seinem Knödel hängen sieht. Hohoho! Also, - zischt ab!“

Im Nu hatten sich die kleinen Vögel versteckt. Ein bisschen Schiss hatten sie schon, denn die meisten von ihnen hatten noch nie von einem Specht gehört, geschweige denn, ihn gesehen. „Da, guckt mal, da kommt er! Boh, ist der riesig!“
„Und so schön bunt“, leiser Neid klang aus der Stimme des etwas unscheinbaren Finks.

Fasziniert schauten die kleinen Vögel auf den großen. Wie gewand der sich an den kleinen Meisenknödel hängte! Und mit welcher Kraft der zu hackte! Dass der Knödel dabei nicht abriss! Dann würden die Amseln sich kaputt lachen. Und mit Sicherheit würden auch die ollen Krähen und die frechen Elstern ratzfatz auf der Matte stehen und sich um die besten Brocken reißen. Das durfte nicht passieren. Ganz fest drückten sie ihre kleinen Krallen aneinander.

Plötzlich schob sich neben dem Baum eine Balkontüre auf, ganz leise und vorsichtig, und ein kleiner Fotoapparat blinkte in der fahlen Mittagssonne. Augenblicklich schwang sich der Buntspecht in die Luft, und die kleinen Vögel duckten sich hinter den Schneehauben. So was mochten sie überhaupt nicht. Nicht, dass sie wirklich Angst hatten vor ihren Menschen, aber so ein bisschen schüchtern waren sie schon. Nur die dicken Amseln pickten weiterhin in aller Seelenruhe die herunter gefallenen Körner. Abhauen? Sie? Nie im Leben.
Das hier war ihr Garten, und die Menschen durften froh sein, wenn sie geduldet wurden.

Die kleine Meise platzte fast vor lauter neuen Eindrücken. Das musste sie der Mutter erzählen. Eilig verabschiedete sie sich von ihren Freunden und flog heim.

Heim. Heim? Ähm, wo war noch mal das neue Winter-Zuhause? Hier lang oder doch dorthin?“

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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