"Das Geheimnis erfolgreicher Bildung" - eine internationale Tagung in Düsseldorf

In der Zeit vom 11. bis 13. Juni 2010 fand eine internationale Tagung - veranstaltet vom Familiennetzwerk des FAMILIEN e. V. - an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf statt. In zahlreichen Vorträgen und Diskussionen, in Gesprächen und Filmen wurden verschiedene Facetten der kindlichen Entwicklung mit ihren Folgen betrachtet. Durch die unterschiedlichen Blickwinkel entstand eine intensive Zusammenschau, die berührend war mit ihrer Dichte an Erfahrungen und Eindrücken und die einen gemeinsamen Kern erkennen ließ. Unter anderem stellte der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld seinen Ansatz vor, der nun auch über Fernstudienkurse erarbeitet werden kann. Informationen hierzu unter www.GordonNeufeld.de, campusdeutsch@gordonneufeld.com und bei Dagmar Neubronner, Tel 0421/6263989.

Bericht zu einigen Schwerpunkten der Tagung

Kindheit in der heutigen Zeit ist allgemein geprägt von früher Förderung und wird, verbunden mit dem Ruf nach mehr Kinderkrippenplätzen und Ganztagsbetreuung, zunehmend in außerfamiliäre Institutionen verlagert. Leistungsorientierte Wissensvermittlung und Training sind jedoch nicht das, was kleine Kinder brauchen. Die menschliche Kindheitsentwicklung verläuft seit Urzeiten sehr langsam. Z e i t ist es, die Kinder benötigen um aus dem Schutzraum der vorgeburtlichen Entwicklung heraus sich in sich selbst, in ihrer Umgebung und in Beziehungen beheimaten zu können, wie der Berliner Kinderarzt und Psychotherapeut Christian Meinecke es ausdrückt. Aus dem Urvertrauen heraus können die Kinder mit Selbstvertrauen in der Welt wirksam werden. Selbstvertrauen entsteht durch selber tun. Statt Zeit für ausreichende Selbstwahrnehmung und authentisches Wahrnehmen der Welt mit allen Sinnen - Zeit, es selbst zu tun - erfahren kleine Kinder oft eine Überreizung von Seh- und Hörsinn, während die Wahrnehmung der Motorik, auch der Sprachmotorik, unterentwickelt bleibt. Schon in Babygruppen entsteht Überforderung, und Förderung in Kita oder Schule bewirkt bei vielen Kindern Leistungsdruck und Stress. Zusätzlich zu Reizüberflutung und hektischer Umgebung stellen unsichere Beziehungen und frühe Trennungen eine Quelle von Beunruhigung dar.

Kinder lernen am besten von engen Bezugspersonen

Während die Vorstellung allgemein verbreitet ist, dass Kinder bessere Bildungschancen haben, wenn sie möglichst früh in Betreuungseinrichtungen gebracht werden, betont der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld, dass Kinder besonders gut von ihren engen Bezugspersonen lernen und im Kontext warmer, erfüllender Bindungen Fähigkeiten entwickeln, die wichtige Voraussetzung dafür sind, andere Bildungsangebote überhaupt nutzen zu können. Dazu gehören Interesse, Neugier und Eigenverantwortung im Lernprozess, die Fähigkeit aus Fehlern zu lernen, ebenso widersprüchliche Gedanken und Gefühle zu verarbeiten und dabei Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme zu entwickeln. Diese Fähigkeiten sind hauptsächlich das Ergebnis von Reifungsprozessen, die bei erfülltem Bindungsbedürfnis stattfinden können. Das Reifwerden ist der Schlüsselfaktor dafür, dass ein Kind fit für die Gesellschaft wird, nicht die frühe Sozialisierung unter Gleichaltrigen. Und je tiefer die Bindung, desto mehr Raum besteht für die persönliche Entwicklung und Reifung.

Aggression, Gewalt, Mobbing, Amok

In seiner Arbeit mit jugendlichen Strafgefangenen hat Neufeld lange danach gesucht, warum diese so wenig bereit waren zu lernen. Er fand die Hauptursache in einer tiefen Frustration. Die stärksten Frustrationen und Schmerzen erleben wir Menschen durch gescheiterte Nähe in Bindungsbeziehungen. Um dann n i c h t mit Aggression zu reagieren, müssen wir uns mit der Vergeblichkeit auseinander setzen und über die Tränen zum Anpassungsvermögen gelangen. Ein weiches Herz und ein sicherer Ort zum Ausweinen, enge Bezugspersonen also sind notwendig, wenn es Kindern schlecht geht. Das können Gleichaltrige nicht leisten und so sieht Neufeld in der Gleichaltrigenorientierung statt einer vertikalen Bindungsstruktur einen Nährboden für Gewalt. Auch die üblichen Strafmethoden führen zu noch stärkerer Frustration, während die Bindungsfrustration vermindert werden müsste. In dem Film "Wo die Liebe fehlt, wächst die Wut" von Jo Frühwirt (SWR) wurde der Zusammenhang in beeindruckender Weise erfahrbar.

Frühkindlicher Stress wirkt lebenslang

Die Wirkung von frühkindlichem Stress, wie er bei Bindungsmangel, hektischer Umgebung und Überforderung entsteht, ist enorm und wird erst in den letzten fünf Jahren, seit auch kindliche Gehirne untersucht werden, besser verstanden. Die frühe Umgebung prägt sich im Zentralnervensystem ein und Schmerzerfahrungen werden gespeichert, wie der Arzt für Psychosomatische Medizin und Schmerztherapie Ulrich T. Egle erklärt. Kindliche Belastungen haben Langzeitfolgen, denn der Mensch ist so angelegt, dass die Feinvernetzung der Verbindungen im Gehirn erst nach der Geburt stattfindet mit dem Vorteil einer immensen Anpassungsfähigkeit und dem Nachteil der Verletzlichkeit bei Störungen.

Zentral in den Auswirkungen von frühkindlichem Stress steht die Regulationsfähigkeit der Stressverarbeitung, indem bestimmte, für den Stressabbau bedeutende Genabschnitte erst aktiviert werden, wenn genügend Oxytocin vorhanden ist - ein Hormon, das beim Stillen und in Wechselwirkung mit mütterlichem Verhalten und sozialer Interaktion ausgeschüttet wird. Es sind die Rezeptoren für Cortisol, die in Abhängigkeit von der Intensität der Bindung gebildet und in den Hirnzentren von Präfrontalem Cortex, Hippocamus und Amygdala zu finden sind. Damit in Einklang stehen Ergebnisse verschiedener Studien, die z. B. zeigen, dass frühe Bindung Stressanfälligkeit klein hält und umgekehrt durch frühe Entbehrung (Deprivation) der Abbau von Stress erschwert ist.

Das Stresshormon Cortisol, das nicht wie Adrenalin der Kampf- oder Fluchtreaktionen dient sondern einer nachfolgenden Verarbeitung der beunruhigenden Situation, hat starke Wirkung auf die Entwicklung des Gehirns. Es beeinträchtigt das in den ersten 15 Lebensmonaten erfolgende starke ungerichtete Sprossen der Nervenzellen, wie der Psychologe und Hirnforscher Kristian Folta berichtet, und lässt ein retardiertes Netzwerk als Grundlage allen weiteren Lernens entstehen. Mit der Zunahme von frühkindlichem Stress scheint auch die Zunahme von Hirnfunktionsstörungen einher zu gehen. Und auch Armut zählt zu Belastungsfaktoren der Kindheit. Eine sichere Bindung dagegen kann sogar schwere Störungen kompensieren.

Fehlende Väter verursachen hohe Kosten

Die körperlichen und seelischen Folgen einer belasteten Kindheit wie Beeinträchtigungen des Immunsystems mit vielen Krankheitsbildern, chronische Schmerzzustände oder Depressionen können auch erst sehr viel später im Leben in Erscheinung treten. Eine Studie zur Epidemiologie psychogener Erkrankungen wurde von dem Arzt und Psychotherapeuten Matthias Franz vorgestellt: nach 50 Jahren zeigte sich bei Fehlen des Vaters in den ersten sechs Lebensjahren ein 2,5-fach höheres, weitere zehn Jahre später ein noch höheres Risiko psychisch zu erkranken. An diesem für die Untersuchenden völlig unerwarteten Ergebnis, das die Langzeitfolgen der kriegsbedingter Vaterlosigkeit offenbarte, wird auch die lange währende kollektive Verleugnung der Bedeutung des Vaters erkennbar. - Dass im 2. Weltkrieg über 6 Jahre hinweg jeden Tag durchschnittlich 2000 deutsche Soldaten starben, ist emotional kaum auszuhalten und erklärt die späte Entdeckung des kollektiven Kriegstraumas wie auch der Beschädigung und hochgradigen Überforderung von Eltern und Kindern.

Franz stellte das Fehlen von positiven Vaterbildern über vier Generationen hinweg bis zur heutigen strukturellen Vaterlosigkeit dar. Heute betrifft die Vaterlosigkeit etwa 20 % der Kinder, verstärkt durch den Männermangel in den Kindereinrichtungen, und die Zahl der konfliktreichen Trennungen und damit die Zahl der Alleinerziehenden und Patchwork-Familien nimmt weiter zu. Durch Armut an Geld und Armut an Beziehung und auch eine steigende mütterliche Deppressionsrate erhöhen sich kindliche Verhaltensauffälligkeiten, beeinträchtigte Schulerfolge, Delinquenz und schließlich ein erhöhtes Risiko zu späteren schweren Depressionen (dazu PALME-Elterntraining an der Uni Düsseldorf). Die aus der Vaterlosigkeit resultierenden gesellschaftlichen Kosten sind hoch. Dabei wären nach Meinecke bei guter Kommunikation zwei Drittel der Trennungen vermeidbar.

Ursachen unserer zentralen Probleme

Die frühe Erziehungserfahrung wirkt sich nicht nur auf das Individuum sondern auf die gesamte Gesellschaft aus, so der Psychiater, Psychoanalytiker und Autor Hans-Joachim Maaz. Unsere kapitalistische Lebensweise mit Gier und gestörtem, süchtigen Verhalten ist nicht durch eine Obrigkeit geschaffen, sondern durch uns selbst als Abbildung unserer psychosozialen Frühgeschichte, die wir unter Wiederholungszwang leben und weiter geben. Nicht was wir beabsichtigen, sondern was wir als elterliche Erfahrung in uns tragen, kommt bei der Erziehung an.

Maaz berichtete von sechs verbreiteten Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen, wobei Mütterlichkeit und Väterlichkeit nicht an das Geschlecht gebunden sind, sondern eine bestimmte Qualität beschreiben, die das kleine Kind als Erfahrung braucht: "Muttermangel" entsteht durch wenig entgegengebrachte Liebe und Zeit, was für die Kinder zu übersteigertem Leistungsverhalten, Streben nach Geld und Ansehen, zu Sucht wie auch zu Mangelschmerz bei besonders guten Beziehungen führt und in unserer Leistungsgesellschaft seine Entsprechung findet. "Muttervergiftung" ist die Folge, wenn nur auf Wohlverhalten positiv reagiert wird. Die selbstentfremdeten und abhängigen Kinder ergreifen später häufig Helferberufe, geraten in Krisen bei der Frage nach sich selbst und dem eigenen Wollen und passen sich laut Maaz gut in die kapitalistische Marktwirtschaft ein. "Mutterbedrohung" resultiert aus Ablehnung - mit der Folge, dass die Welt als bedrohlich erlebt wird und Angst vor Liebe und Frieden entsteht.
"Vaterterror" entsteht, wenn der Vater aus Sehnsucht nach Mütterlichkeit das Kind als Konkurrenten betrachtet. "Vaterflucht" meint, wenn Bindung, Beziehung und Pflichten nicht ein- bzw. ausgehalten werden und die Kinder mit wenig Leistungsbetonung und -freude in Versorgungssituationen verharren. Und "Vatermissbrauch" resultiert aus einem Nichtannehmen der eigenen Begrenztheit und einem Training der Kinder zu Machos und Emanzen.

Maaz bemerkte, dass 80 % der Deutschen keine Empathie für andere empfinden und lieber in einem Konkurrenzverhältnis mit ihnen leben - aus Angst vor der Konfrontation mit den eigenen schmerzhaften und bedrohlichen Gefühlen. Unsere zentralen gesellschaftlichen Probleme sind demnach Folgen früher mütterlicher und väterlicher Störungen, deshalb ist es besonders wichtig, Beziehungs- und Bindungsfähigkeit von Eltern und Lehrenden in den Mittelpunkt zu stellen.

Wie Beziehungsfähigkeit gelebt und gelernt werden kann, setzte die Autismus-Therapeutin Jirina Prekop direkt beispielhaft um. Sie demonstrierte auf herzerfrischende Weise, wie sich Liebe und Beziehung ausdrücken: von Angesicht zu Angesicht, mit emotionaler Konfrontation in Konfliktsituationen und ebensolcher Versöhnung.

Der Vortrag des Erziehungswissenschaftlers und Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann, der im Jahr 2004 auf Einladung des Elternforums am THG in Kettwig war, entfiel aufgrund einer schweren Erkrankung, ist dafür aber auf der Website (www.familie-ist-zukunft.de) als Video zu sehen. Bergmann stellt die grundlegende Bedeutung des Mütterlichen und Väterlichen heraus: die Wichtigkeit der Nähe der Mutter und der verlässlichen Wahrnehmungsordnung durch den Vater. Anstelle von verlässlicher Beziehung würden die Kinder heute in erbarmungslose Konkurrenzsituationen gedrängt; das Freie, das Sich-verlieren-können in Spiel und Betrachtung, die Glücksfähigkeit gehe verloren. Wir brauchen Eltern, die sich der Verarmung der Bindungen entgegen stellen, Lehrende die Bindung schaffen und Therapeut/innen, die das Besondere an jedem Kind sehen und ansprechen, statt technokratisch zu messen und zu testen. Sein Resümee ist, dass eine Kultur, die Mütterlichkeit entwertet, sich seiner elementaren Substanz beraubt und auf Dauer nicht überleben kann.

Auch die politische Lage wurde in einigen Vorträgen thematisiert: Wie Eltern in ihren Rechten beschnitten werden, wie wenig Unterstützung Familien erhalten und dass Familienpolitik bei uns eine Politik der Unterlassungen ist. Der Jurist Albin Nees, Präsident des Deutschen Familienverbandes, nannte verschiedene Maßnahmen, die die Situation der Familien verbessern könnten. So wurde auch das Wahlrecht ab Geburt und ein Erziehungsgehalt angesprochen.

Die Schirmherrin Stephanie zu Guttenberg machte sich authentisch für das Wohl der Kinder stark. Sie forderte, dass endlich die Kinder und die Bedeutung der ersten Lebensjahre in den Fokus gerückt werden und wandelte das Motto: "Die Kinder sind u n s e r e Zukunft" in "Es geht um die Zukunft unserer Kinder". Bei sozial schwierigen Verhältnissen sollten die Familien vom ersten Tag an Unterstützung erhalten. Familien, die ihre Kinder selbst erziehen wollen, sollten finanziell und auch gesellschaftlich unterstützt werden.

Susanne Wiegel

Autor:

Susanne Wiegel aus Essen-Kettwig

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