"Wenn ich groß bin, haue ich ab" - Eine wahre Geschichte

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Planwirtschaft, Stasi, Transit, West-Berliner, die nicht zum Bund müssen - das sind die Dinge, die einem Bürger der imperialistischen BRD nach fast 25 Jahren ohne DDR noch so einfallen. Karsten Berndt, der dort blutjung 27 Monate in Hochsicherheitsgefängnissen verbracht hat, fand zunächst mal 20 Jahre lang keine Worte dafür...

Dann wollte er doch seine Stasi-Akten sehen. „Die Neugier war nach den Jahren der Verdrängung zu groß geworden“, erinnert er sich. „Ich saß in einem Raum und wartete auf die Akte, während um mich rum lauter Menschen bereits in ihren Mäppchen blätterten. Dann kam eine Frau, die einen großen Wagen mit einem unglaublichen Papierberg schob. Das waren meine Akten...“
Der Mann, der 1966 in Ost-Berlin auf die Welt kam und dort im Bezirk Prenzlauer Berg aufwuchs, begann, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Jetzt ist sein Buch erschienen: „Der Rumtreiber“ erzählt auf 180 Seiten die Geschichte eines Jungen, der alles andere als wohlbehütet im Osten von Berlin aufwuchs. Mit einem Vater, dessen Philosophie lautete „Klauen gibt es nicht, es ist ja alles Volkseigentum“ und einer Mutter, die ihn ernährte, aber nicht umarmte. Den coolen Eddie, der nach Schweden ziehen durfte, beneidete Karsten Berndt glühend. Nicht umsonst lautet der Untertitel des Buchs „Wenn ich groß bin, haue ich ab.“ Berndt sagt: „Ich wollte mit dem Buch nur meine wahre Geschichte erzählen.“

"Der Rumtreiber" - als Buch im Oktober erschienen

1984 gelingt ihm, woran so viele andere scheitern: Er schafft es, in den Westen zu fliehen. Spektakulär - und unglaublich. „Ich habe damals vor nichts Angst gehabt“, erinnert er sich heute kopfschüttelnd. Allein diese Geschichte wäre es wert gewesen, das Buch zu schreiben. Doch Berndt wird von West-Berlin aus erfolgreicher Fluchthelfer - „Ich dachte, ich könnte alles!“ - und schließlich von der Staatssicherheit als Transitreisender gefasst.

Erfolgreicher Fluchthelfer

„Der Rumtreiber“ nimmt seine Leser noch einmal mit in eine Zeit, als die Staatssicherheit als allmächtig galt. Verwundert liest er, wie wenig Respekt der junge Karsten Berndt hatte. Und wie blauäugig er Vertrauen fasste, im Überwachungsstaat DDR keinen Verrat witterte.
27 Monate verbrachte er im Staatssicherheitsgefängnis, in Berlin-Hohenschönhausen und in Bautzen. Sieben Monate lang wurde er täglich verhört. „Das habe ich alles nachgelesen in meinen Akten.“ Dann kaufte ihn die BRD frei, das war nach zwei Selbstmordversuchen.

Zeitzeuge in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Heute lebt Karsten Berndt als erfolgreicher Software-Entwickler in Kettwig, engagiert sich als Zeitzeuge in Hohenschönhausen dafür, dass man aus Geschichte lernen sollte: Das Gefängnis ist inzwischen eine Gedenkstätte. Wie hat er die Kurve gekriegt? „Ich bekam ein Stipendium, merkte aber bald, dass mein Bildungsniveau überhaupt nicht reichte“, erzählt er. „Ich kam aus dem Gefängnis und saß plötzlich zwischen Schülern, deren größtes Problem war, wo der nächste Urlaub hingehen sollte...“ Und weil er ein Leben lang gern der Beste war, schloss er sich plötzlich -diesmal freiwillig - ein und büffelte. Es gab auch ein Mädchen, dass ihn in die richtige Richtung stupste. „An der Uni fragte der Professor, ob denn schon jemand ein bisschen programmieren könne und ich meldete mich.“ In Wirklichkeit konnte er es nicht, aber er lernte ja schnell - und programmiert heute noch.

"Ich war ja an allem selbst schuld."

Seine Geschichte zu erzählen ist ihm wichtig geworden. „Es geht mir besser damit“, gibt er unumwunden zu. Hass empfinde er keinen. „Ich war ja an allem selbst schuld.“ Außerdem habe seine Geschichte ihn zu dem gemacht, was er heute ist. „Ein Mensch, der sich durchaus fragt, ob er ein guter Mensch ist. Das wurde mir nicht in die Wiege gelegt.“
Und wenn in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen der Zeitzeuge Karsten Berndt vor einer Gruppe von Schülern steht, die alle auf ihren Handys rumdrücken, kann er sicher sein, dass diese Handys nach 15 Minuten alle verschwunden sind - zu spannend ist seine Geschichte, aber auch die Tatsache, dass er sie tatsächlich erlebt hat. Und dass sie wahr ist, beweisen seine Stasi-Akten ...

Über das Buch:

Dass man etwas besorgen können muss, lernt der „Rumtreiber“ in Ost-Berlin schon als Kind. Wie er sich den Führerschein in West-Deutschland besorgt, das ist eine coole Geschichte. So viel sei verraten: Er hat nie eine Prüfung abgelegt, fährt aber seit fast 30 Jahren mit einem echten Dokument durchs Land...

Karsten Berndt hat ein wirklich spannendes Werk geschrieben, ohne sich selbst als Helden zu feiern. Wer in der BRD aufgewachsen ist, wundert sich wahrscheinlich über seinen Umgang mit dem Sozialstaat, wer aus der DDR stammt, ist sicher viel weniger irritiert.

Nach fast 25 Jahren deutscher Einheit, gerät die DDR-Vergangenheit langsam in Vergessenheit. „Der Rumtreiber“ dient auch als Geschichtsbuch, durch die Lektüre wird der Sozialismus der DDR nochmal real.

Das Buch gibt es bei Buch Decker, Hauptstraße 92 oder im Zeitzeugenverlag

Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen:

Auf dem Gelände der früheren zentralen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit befindet sich seit 1994 eine Gedenkstätte. Seit Juli 2000 ist diese eine selbstständige Stiftung öffentlichen Rechts.
Die Gedenkstätte hat die gesetzliche Aufgabe, die Geschichte der Haftanstalt Hohenschönhausen in den Jahren 1945 bis 1989 zu erforschen, über Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen zu informieren und zur Auseinandersetzung mit den Formen und Folgen politischer Verfolgung und Unterdrückung in der kommunistischen Diktatur anzuregen.

Autor:

Silke Heidenblut aus Essen

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