Truck Tracks Ruhr macht die Stadt zum Road Movie

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„Five Minutes of Fame“ bietet das Kunstprojekt Truck Tracks Ruhr sieben ganz normalen Orten in sieben Städten des Ruhrgebiets. Zu diesen fährt ein umgebauter LKW mit 47 Zuschauern. An jedem Halt erleben diese ein fünfminütiges Hörspiel, das dem Blick auf die Stadt eine künstlerische Dimension gibt und die Wahrnehmung um eine zweite, oft abstrakte Ebene ergänzt. Auch während der Fahrt zwischen den Stationen wird die Stadt zur Bühne – zum Beispiel in Bochum.

Das Abenteuer beginnt in Bochum im Foyer des Schauspielhauses. Nach einer kurzen Einweisung gehen wir gemeinsam zum für das Kulturerlebnis umgebauten LKW. Auf dessen Ladefläche wurden drei Sitzreihen eingebaut mit Blick seitlich zur Fahrtrichtung. Dort blicken die Mitfahrer in den nächsten hundert Minuten abwechselnd auf eine Leinwand oder durch die zehn Meter lange und 2,5 Meter hohe gläserne Seitenwand direkt auf das nächtliche Bochum. Die Zuschauer werden mit dem Einsteigen in den Truck zu Betrachtern des Stadtbildes, deren Teil sie kurz zuvor selbst noch waren. Wie bei der Fahrt durch einen Safari-Park hat man plötzlich Zeit alles genau zu betrachten. Die Lichter in den Fenstern. Menschen auf der Straße. Einen Notarztwagen im Einsatz. Auf den bequemen Sitzen hinter der verspiegelten Scheibe wird man zum unbeteiligten Beobachter – zum Gast in der eigen Stadt. Mit den Vibrationen des Fahrzeugs und den Bewegungen durch Bremsen und Beschleunigen bleibt man körperlich mit der nächtlichen Stadt verbunden, doch zugleich sorgen Musik, Hörspiele und Videoeinspieler dafür, dass man eine seltsame Distanz bekommt. Dafür sorgt auch, dass während der Fahrt Videos von einer Fahrt durch die Stadt gezeigt werden – die jedoch nicht zu den gerade aktuellen Lichtverhältnissen und Bewegungen des Fahrzeugs passen.

Bei mehreren Stopps erleben die Mitfahrer Hörspiele und Projektionen. Beim ersten Stopp hört man die Melodie von „Wind of Change“ und sieht durch die mit Regentropfen gesprenkelte Scheibe eine Reihe von Metallbögen. Auf diesen sind erleuchtete Wörter zu erkennen. Es geht um Tradition, Vertrauen und Herkunft. Verschiedene Stimmen sprechen das Publikum auch direkt an. Es geht um Glauben und Regeln aber auch um Triviales wie den Haarschnitt oder um Fondue als Weihnachtsessen. „Wollen wir los?“, heißt es schließlich und der Truck rollt wieder an. Während ein Teil der Gäste die Leinwand gebannt anstarrt, schauen andere umher und sehen auch die Sitznachbarn und ihre Reaktionen als Teil der Inszenierung. Auch die Musik wechselt. Auf diesem Teil der Tour plätschert sie nicht vor sich hin, sondern regt an und auf. Während der Truck sich im Video in den Fassaden des Technologiequartiers spiegelt ist er unterwegs in eine „staatsfreie Zone“. Die Leinwände heben sich als wir vor einer Reihe verfallener Häuser stehen. Ein lange stillgelegtes Stehcafé lässt erahnen, dass es hier einst lebhaft zuging. Stimmen berichten von der Bronx im Bereich der Westtangente und dem Widerstand gegen den Abriss des Heusner-Viertels in den 80er-Jahren. Sie berichten vom drohenden Abriss wegen Seuchengefahr. Sie erzählen von einem Leben ohne Perspektiven – aber mit Spaß.

Der nächste Stopp ist in einer Müllaufbereitungsanlage. Vor den Fenstern des Trucks sieht man zwei Bagger, die staubenden Müll zwischen Betonwänden hin- und herschieben und diesen für das Recycling vorbereiten. Ein Hörspiel informiert dazu über das Wesen der Materie. Jedes Atom hat schon immer existiert. Was heute Müll ist, war vielleicht gestern Bagger und vorgestern Mensch. „Alle sieben Jahre wird jede einzelne Zelle in unserem Körper ersetzt“, erfahren die Mitfahrer. Was heute in uns steckt, kann schon bald in ganz anderer Form wiederkehren, denn die Materie besteht über den Tod hinaus. Eindrucksvoll ist auch die nächste Station. Statt Walhalla steuert man „Stahlhalla“ an – einen Kreisverkehr mit gewaltiger Installation in seinem Inneren. Die Musik wechselt von dramatischen Streichern über Partyklänge bis hin zu viel zu lautem Rock´n´Roll. Stimmen berichten über Liebschaften, ein drohendes Verbot von Kunst in Kreisverkehren durch die EU und singen „Ein `Hoch` auf unseren Busfahrer“. Dann geht es auf die Autobahn, wo diie überholenden Autos die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auf der Leinwand werden schließlich Menschen im Bochumer Hauptbahnhof gezeigt. Sie blicken rund eine halbe Minute in die Kamera und scheinen den Betrachter direkt anzustarren. Manche starren zurück. Andere wenden den Blick ab oder tuscheln leise mit dem Sitznachbarn. Dann steht der Truck in einer düsteren Ecke der Stadt. In Hausnummer 38 soll einst der ehemalige Nachtportier des Bochumer Theaters gelebt haben. Etwas seitlich ist ein umzäunter Eingang zu sehen – und auf dem Dach der Schriftzug „Girls, Girls, Girls“. Heimatlose und Glücksuchende werden hier erwartet – und tatsächlich schleichen während unseres kurzen Stopps einzelne Männer in die Industriehalle neben dem ehemaligen Schlachthof, dessen Nachtwächterloge wir kurz darauf erreichen. Auf der Leinwand sind kurz darauf wieder Menschen in der Stadt zu sehen.

Seinen vorletzten Stopp hat das Kunstprojekt am Husemannplatz in der Innenstadt. Stimmen regen an was wäre, wenn man sein Smartphone auf dem Pflaster zerschmettern würde. Sie fragen, was wäre, wenn die Banken Geldscheine verteilen und auf dem Platz verbrennen würden. Würden die Millionen von Euro wie ein Freudenfeuer wärmen? Ob sich die turbulente Welt so zu einem Besseren wenden könnte? Dann geht es weiter zum Schauspielhaus. Als der Motor verstummt verabschiedet eine Stimme die Mitfahrer „aus der Sicherheit hinter Glas“ in die Bewegungen der Stadt. Jeder ist eingeladen nun selbst wieder Schauspieler auf der Bühne der Stadt zu werden. „This Exit is an entrance“ heißt es zum Abschied von Truck Tracks Ruhr.

Autor:

Christian Kolb aus Essen-Steele

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