Europäische Idee in Gefahr?

SPD-Europaabgeordneter Jens Geier spricht im Bürgermeisterhaus über den Brexit.
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Europapolitiker Jens Geier sprach als Gast der SPD über den Brexit und seine Folgen

Donald Trump US-Präsident? Da müsste Europa umso stärker zusammen rücken. Doch der Europa-Abgeordnete Jens Geier fühlt sich nicht bemüßigt, einen moderaten Ton einzuschlagen: „Was Angela Merkel da treibt, geht nicht mehr lange gut. Ein Kardinalfehler, den die Frau begeht!“ Es brodelt in dem so besonnenen Vollblutpolitiker: Er sieht die europäische Idee in Gefahr.

„Wir erleben einen von der Europäischen Union und nicht zuletzt von der Bundeskanzlerin geprägten Prozess der Ent-Solidarisierung! Ein Beispiel ist Lothringen. Dort schwindet die Industrie, sehr viele Arbeitsplätze gehen verloren, der Vorwurf von Frau Le Pen und ihrer Front National ist nicht mal von der Hand zu weisen: Das hat uns Brüssel eingebrockt.“ So sehen das die Bürger, denn so wird es ihnen von ihren jeweiligen Nationalregierungen immer wieder herauf und herunter dekliniert: „Brüssel ist schuld. An allem.“
Die SPD Werden / Bredeney hat in das Bürgermeisterhaus geladen. Es geht bei diesem höchst spannenden Abend primär um den „Brexit“. SPD-Ortsvorsitzender Peter Allmang spricht einleitende Worte, freut sich über das große Interesse an der Veranstaltung. Nicht unbescheiden deutet er scherzhaft an, dass es natürlich kein Zufall gewesen sei, dass ausgerechnet heute der High Court in London zum Brexit eine umstrittene Entscheidung gefällt habe, die spannende Fragen aufwerfe: „Was ist, wenn das Unterhaus Nein sagt?“ Allmang zählt einige der drängendsten Fragen auf: „Was ist mit dem Binnenmarkt, was mit den Zöllen? Wie ist das mit dem Pfund, wie mit Investitionen? Wie begegnen wir der Zunahme der Fremdenfeindlichkeit?“ Jens Geier hat nicht für alles eine Lösung, doch fundierte Erklärungen, vor allem eine Meinung im Gepäck: „Was passiert wann? Prognosen sind da schwierig. Doch wir können nach Wahrscheinlichkeiten einsortieren.“

„Ignorante und verlogene Kampagne“

Die ländliche, ältere Bevölkerung habe die jungen, urbanen Menschen überstimmt. Nordirland und Schottland wiederum hätten ganz eigene Interessenslagen. In Schottland werde der Brexit als Schlüssel zu einem zweiten Referendum über die Unabhängigkeit von England empfunden. In Nordirland dagegen sähen viele nun den Moment zur irischen Einheit gekommen: „Was also mit einem knappen Ja begann, könnte mit dem Zerfall des United Kingdom enden.“ Die politische Klasse sei ohne Plan in die Kampagne gegangen: „Die hatten gar keine Ahnung, was sie auslösen.“ Offensichtlich habe das Brexit-Lager nicht ernsthaft mit einem Erfolg gerechnet, anders seien die konfusen Reaktionen nicht zu erklären. Da wurde das Blaue vom Himmel herunter versprochen, falsche Versprechen heraus posaunt worden. Die wurden dann nach dem Referendum schnell wieder kassiert. Richtig Fahrt nahm die Kampagne erst dann auf, als von der reinen EU-Kritik auf eine höchst immigrationsfeindliche Tonlage umgeschwenkt wurde. Angst vor Flüchtlingen etwa im berüchtigten „Dschungel“-Camp in Calais wurde geschürt, das innenpolitische Klima veränderte sich, die europafreundliche Abgeordnete Joanne Cox wurde erschossen, es gab einen exorbitanten Anstieg fremdenfeindlicher Attacken. Jens Geier ist schockiert: „Ich habe in 40 Jahren politischer Arbeit noch nie eine so ignorante und verlogene Kampagne erlebt.“

Wenn Nissan fortgeht aus England

Alle Modelle des Austritts hätten Vor- und Nachteile zu bieten, aber keins entspräche dem, was dem Bürger vorgegaukelt wurde: „Da muss sich die britische Regierung ehrlich machen. Es scheitert ja schon an Kleinigkeiten. Sie suchen händeringend etwa 200 Spezialisten, um ein Handelsministerium aufzubauen. Die finden sie aber nicht.“ Auch droht ein massiver Verlust. Dabei scheint alles gut, das Pfund ist abgestürzt, britische Waren dadurch günstiger im Ausland, die Aufträge kommen, die Produktion brummt: „Auf diesen Zahlen kann man sich ausruhen. Das macht Frau May auch. Doch der Sommerurlaub auf dem Kontinent oder zum Beispiel deutsche Medikamente sind mal eben zehn Prozent teurer geworden. Die japanische Autoindustrie in Europa sitzt noch in England. Noch. Falls es jedoch zu Zollgrenzen mit dem Rest Europas kommt, sind die fernöstlichen Autobauer, aber auch die Pharmaindustrie und der Finanzsektor weg. Wenn etwa Nissan fortgeht aus England, ist das ein starkes Zeichen. Zwar wird die britische Regierung tief in die Tasche greifen, um Nissan zu halten, doch dann wird der Brexit so richtig teuer für den Steuerzahler. Großbritannien ist jetzt schon höchst unattraktiv geworden und zurzeit das Giftigste für erfolgreiche Investitionen.“

Droht bald ein Öxit?

Doch über die Zukunft Großbritanniens hinaus nimmt Jens Geier enorme Erosionsprozesse der europäischen Idee wahr: „In Österreich ist Wahl des Bundespräsidenten. Der hat dort viel mehr Befugnisse als in Deutschland, kann das Parlament auflösen. Das würde Herr Hofer sofort tun. Wenn nach Neuwahlen die FPÖ Einfluss bekäme, droht ein Öxit. Im Frühjahr sind Wahlen in den Niederlanden. Kaum möglich, Wilders‘ Freiheitspartei aus der Regierung zu halten. Andere Länder könnten nachziehen.“ Keiner der 28 Mitgliedsstaaten sei des Willens und in der Lage, um des großen Ganzen zuliebe und im Interesse eines Kompromisses einen eigenen Vorteil aufzugeben: „Momentan gönnen die sich das Schwarze unter den Fingernägeln nicht. Wenn wir nicht aufpassen, ist die politische Union in fünf, sechs Jahren kaputt! Ich bin da nicht zuversichtlich im Moment.“ Es werde dann vielleicht ein Kern-Europa mit rund sieben Ländern übrig bleiben, darunter Deutschland, Frankreich, Italien: „Die Deutschen haben sich auch nicht schlau benommen. Frau Merkel trifft sich mit Hollande und Renzi als eine Art ‚Europadirektorium‘. Nur mit denen heißt eben auch, mit den anderen 25 nicht. Aber zum Beispiel diese polnische Regierung lässt sich nicht wegschubsen.“
Zum Abschluss zitiert Jens Geier Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der habe wahre Worte gefunden: „Reisefreiheit, offene Grenzen und gute Nachbarschaft sind nicht selbstverständlich.“ Der Europaabgeordnete mahnt: „Das begreifen die Menschen vielleicht erst dann, wenn es weg ist!“

Autor:

Daniel Henschke aus Essen-Werden

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