Wie die alternde Gesellschaft Kliniken herausfordert

Zehn Prozent aller Menschen im Krankenhaus leiden unter einer Demenz. Für sie ist der Klinikaufenthalt Gift, weil hier nichts vertraut ist. Das überlastete Personal behilft sich oft mit Psychopharmaka, was die Verwirrtheit erst recht befördert. Die  demographische Entwicklung bringt Krankenhäuser an ihre Grenzen.
„Ich bin jetzt fertig hier, ich gehe nach Hause.“ Wenn demente Patienten die „Eigeninitiative“ ergreifen, stehen Kliniken vor gravierenden Problemen. (dpa / Christian Charisius)

Im Februar verschwand die Mutter von Vera Hesse das erste Mal.
„Da sagte die Zimmernachbarin, nee, die wäre gegangen. Sie meinte, sie wäre fertig hier und müsste jetzt nach Hause.“
Dass sie zur Beobachtung eine Nacht in der Klinik bleiben sollte, hatte die alte Dame einfach vergessen. Der Gerontologe Winfried Teschauer:
„Menschen mit Demenz können sich natürlich im Krankenhaus verirren. Wenn sie dann nicht sofort gefunden werden und wirklich komplett orientierungslos sind, dann begeben sie sich möglicherweise an Ort, wo man sie nicht vermutet und deswegen auch nicht findet. Mir ist mindestens ein Fall bekannt, wo das so passiert ist, dass tatsächlich ein Patient im Keller tot aufgefunden worden ist.“
Wie kann es sein, dass Menschen im Krankenhaus verloren gehen? Zumal wenn bekannt ist, dass sie dement sind, wie es bei der alten Dame in Wuppertal der Fall war? Vera Hesse ist meine Nachbarin und Freundin. Mit enormem Aufwand hat sie ihre Mutter so lange es irgend ging zu Hause gepflegt und es geschafft, dass sie nicht einmal alleine durch die Gegend irrte. Ausgerechnet im Krankenhaus passierte es dann. Veras Mutter kann nicht entscheiden, ob sie ihren Namen im Radio hören will, nennen wir sie deshalb Helga. Beim ersten Mal ging die Sache für Helga gut aus. Sie fand vor dem Krankenhaus ein Taxi, der Fahrer schaute im Personalausweis nach der Adresse und brachte sie nach Hause.
Demenz-Problem betrifft Millionen von Klinikpatienten
„Es gibt eine Studie, die im Jahr 2016 veröffentlich wurde, die tatsächlich gezeigt hat, dass 40 Prozent der über 65jährigen im Krankenhaus eine kognitive Veränderung, also im Sinne von Verschlechterung, aufweisen. Und davon sind tatsächlich 20 Prozent an einer schweren Demenzerkrankung leidend.“
Dr. Winfried Teschauer ist Gerontologe und Vorstandsmitglied der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Demenz im Krankenhaus, so sagt er, sei ein Problem, das sowohl von den Kliniken als auch von der Gesellschaft dramatisch unterschätzt werde:

„Das ist eine gewaltige Zahl, bei etwa 17, 18 Millionen Behandlungsfällen im Jahr sprechen wir also über Millionen von Patienten und nicht über ein paar hundert oder ein paar tausend. Von daher gesehen ein wirklich großes Thema, was für die Krankenhäuser auch ein großes Thema sein sollte.“
Krankenhaussituation ist Gift für Demente
Wer möchte, muss sich im Bekanntenkreis nur einmal umhören und wird von ähnlichen Fällen hören. Die verwirrte Mutter bekommt in der fremden Umgebung Angstzustände, der Onkel versucht, den Nachbarpatienten aus dem Bett zu vertreiben, das er für seines hält, und wird mit Psychopharmaka ruhiggestellt, die er nicht verträgt. Krankenhäuser sind für Demente Gift, für ihre Angehörigen Stress. Und das Personal arbeitet sowieso schon an der Belastungsgrenze.

Auch im St. Franziskus Krankenhaus in Münster erinnert sich Dr. Simone Gurlit noch gut an den Fall eines Patienten: Ein älterer Nichtsesshafter mit Alkoholvorgeschichte und großem Bewegungsdrang wurde mit einem gebrochenen Arm eingeliefert:

„Der hat in der Folge, weil er eben das Bett verlassen wollte, unruhig war, ihm Medikamente gegeben wurden in dieser Situation, hat er in der Folge diverse Komplikationen entwickelt, wo man zumindest von außen das Gefühl hatte: Vielleicht wäre zumindest ein Teil davon so nicht passiert, wenn wir jemanden gehabt hätten, der kommunikativ auf ihn hätte eingehen können, der verstanden hätte, was er möchte in dem Moment, und der einfach auch die Möglichkeit gehabt hätte, auch in unserem Krankenhaus diese Bewegung durchzuführen.“
Patienten vergessen Anweisungen der Ärzte
Ganz gleich, ob sie an einer Alzheimererkrankung leiden oder durch Schmerzen vorübergehend verwirrt sind – Patienten mit kognitiven Einschränkungen stellen die Krankenhäuser vor Probleme. Sie vergessen, warum sie im Krankenhaus sind, wissen nicht mehr, warum sie eine Infusion bekommen und ziehen die Nadel heraus. Die vielen Untersuchungen und verschiedenen Gesichter verwirren sie, es entstehen Ängste und Stress, was die Heilung verzögert. Oft können sich Demenzpatienten auch Anweisungen der Ärzte nicht merken. Gurlit:

„Typisches Beispiel: Der Patient bricht sich den Knochen, es gibt eine Versorgung, die bedeutet aber vielleicht, dass er für vier Wochen nicht auftreten darf. Oder nur mit einem Teil seines Körpergewichts. Das versteht der Patient nicht, das kann der nicht umsetzen. Er belastet voll und der Knochen ist noch mal gebrochen und er geht wieder in den OP.“
Spezialstationen reichen nur für Bruchteil der Patienten
All diese Komplikationen sind auch teuer. Für die Nebendiagnose „Demenz“ kann das Krankenhaus in der Regel keinen Cent extra abrechnen. Und selbst dann, wenn ein Patient das Bett doppelt so lange belegt wie vorgesehen, gibt es keine zusätzliche Bezahlung.

Wie also sollen sich Krankenhäuser auf die stetig wachsende Zahl von dementen Patienten einstellen? Einige Kliniken haben eigene Stationen eingerichtet. Die Abteilungen sind geschlossen, ähnlich bunt gestaltet wie Kinderstationen und mit speziell geschultem Personal ausgestattet. Doch Wilfried Teschauer von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ist skeptisch, ob das der richtige Weg ist: 40 Prozent aller über 65jährigen Patienten dement – das sind 10 Prozent aller Klinik-Patienten:

„Wenn sie das noch mal überdenken, was ich vorher gesagt hatte, diese zehn Prozent aller Patienten. Wenn Sie jetzt ein Krankenhaus mit 2000 Betten haben, dann müssen sie eine Spezialstation mit 200 Betten haben. Und das halte ich für vollkommen unrealistisch. Diese Spezialstationen haben eine Dimension zwischen acht und zwölf, vielleicht 14 Patienten. Das heißt, man kann immer nur einen Bruchteil der Patienten mit Demenz unterbringen, und das kann die Lösung ja nicht sein.“
„Demenzsensibles Krankenhaus“
Stattdessen plädiert die Deutsche Alzheimer Gesellschaft dafür, dass sich das ganze Krankenhaus auf Menschen mit Demenz einrichtet. So, wie das im St. Franziskus-Krankenhaus in Münster inzwischen passiert. Für die Klinikleitung gab der Fall des Nichtsesshaften mit dem gebrochenen Arm den Ausschlag: 2001 gründete sie das „Kompetenzzentrum demenzsensibles Krankenhaus“, das die Oberärztin Gurlitt heute leitet.

Neben der Geburtshilfe ist die Kinderstation die einzige, in der es keine Demenzpatienten gibt. Hier muss vorbei, wer das Dienstzimmer des Kompetenzzentrums sucht. Von hier schwärmen fünf Altenpflegerinnen aus. Sie kümmern sich um die im ganzen Haus verteilt liegenden Patienten mit kognitiven Einschränkungen. Vor allem um die, die operiert werden müssen. Eine von ihnen ist Renate Sasse:
„Der entscheidende Grund, warum hier Altenpflegerinnen und nicht Krankenschwestern eingestellt worden sind, ist die speziellere Schulung von Altenpflegern auf alte Patienten und vor allem eben auch auf Demenz.“

Quelle:  Katharina Nickoleit, Deutschlandfunk, Deutsche Alzheimer Gesellschaft

Autor:

Marc Hubbert aus Essen-Ruhr

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