Leben im Todesschatten

Charlotte (Kusha Alexi u.) ringt um den Lebenswillen der Großmutter (Rita Dulcos). | Foto: Costin Rau
  • Charlotte (Kusha Alexi u.) ringt um den Lebenswillen der Großmutter (Rita Dulcos).
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Publikum feiert Ballett-Uraufführung „Charlotte Salomon“ mit stehenden Ovationen

Geburt und Tod, dazwischen Facetten von Freude, tragische Momente, Liebe, Leid, verzweifelter Kampf, Bewegung und Starre.
Blau und Schwarz, dazwischen Farbe über Farbe. Lebensfülle, Todesleere. Bilder eines viel zu kurzen Lebens: Am vergangenen Sonnabend erlebte die Ballettoper „Charlotte Salomon - Der Tod und die Malerin“ eine grandiose Uraufführung.

Nach Marc-André Dalbavies Oper „Charlotte Salomon“ bei den Salzburger Festspielen im vergangenen Jahr war der Gelsenkirchener Ballettchefin Bridget Breiner und der Komponistin Michelle DiBucci in Zusammenarbeit mit Musikern der Neuen Philarmonie Westfalen unter Gastdirigenten Valtteri Rauhalammi die Gratwanderung gelungen, dem Bild einer dramatischen jüdischen Künstlerinbiografie Tiefenschärfe zu verleihen. Unterstützt wurden sie dabei von Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Kilner mit einer fulminanten Ausstattung, dem Videodesigner Philipp Contag-Lada und der Lichtdesignerin Bonnie Beecher mit einer ästhetischen technischen Umsetzung der Vision von Teilen des bildnerischen Lebenswerkes der jüdischen Malerin.

Berührendes Solo

In einem tief berührenden Solo tastet sich eine großartige Kusha Alexi als Charlotte Salomon – ganz in blauer Harmonie und doch voller Neugier - ins Leben. In einem einfachen blauen Kleid erwacht sie, reckt und streckt sich auf dem Laufsteg außerhalb der Bühne. Vor ihr das Meer auf einem dünnen Papiervorhang: blaues, kreatives Fließen. Ein Teil ihres außergewöhnlichen Selbst, über das später der Gesangslehrer ihrer Stiefmutter sagen wird, es sei mit überdurchschnittlichem Talent gesegnet. Das Wasser ist bewegt, gebiert Worte, die wieder verblassen.
Plötzlich zerreißt Charlotte den blauen Vorhang und tritt auf die Bühne hinein in ihr Leben, in dem der Tod (Johnathan Olivier) allgegenwärtig wandelt. Die Schweizerin Kusha Alexi ist eine wunderschöne Tänzerin. Und sie tanzt und lebt Charlotte mit ihrer makellosen Bewegung, der schlichten Eleganz, der subtilen Musikalität, dem langen, feingliedrigen Körper.

Malerei als Therapie

In zwei Stunden erlebt das Publikum die Geschichte einer jungen Frau, die, 1917 als Tochter eines jüdischen Chirurgen geboren, sich nicht nur gegen den faschistischen Wahnsinn, sondern auch gegen das familiäre Erbe wehren muss, das vom Selbstmord der Frauen in der Familie geprägt ist. Sie wählt die Malerei als Therapie in kräftigen Farben, in naiver Malerei und angelehnt an den expressionistischen Stil von van Gogh.
Ihr künstlerisches Vermächtnis, über 700 kleinformatige Gouachen in kräftigem Blau, Gelb und tiefem Rot, die in Ausschnitten immer wieder in die Bühne projiziert werden, steht im Kontrast zum oft düsteren, bedrohlich wirkenden Bühnenbild.
Sehr ästhetisch sind die Tanzszenen, etwa wenn Charlottes Stiefmutter, die Sängerin Paula Lindberg (Ayako Kikuchi als Paulinka) um die Zuneigung der angeheirateten Tochter wirbt und sie auch gewinnt, wenn die jungen Frau sich in Paulinkas Gesangslehrer Daberlohn (Junior Demitre) verliebt oder wenn sie ihre Großmutter (Rita Duclos) auf dem überdimensionalen Bett aus der Depression ins Leben zurückholen will. Bedrückend wirken die Finale einzelner Szenen, etwa die Darstellung der aufkommenden Nazibedrohung durch die Projektion eines Salomon-Bildes mit einem Aufmarsch zahlreicher kleiner Hitler und der Gruppe schwarz gekleideter Tänzer, die mit ihren Armen einen Augenaufschlag lang ein Hakenkreuz formen. Beängstigend stellen sich der Selbstmord der Mutter dar - als auf dem Kopf stehende Maske unter einem überdimensionalen Fenster - und der Großmutter, die schlussendlich über dem metallenen Gitter am Ende des Bettes liegt. Furcht einflößend wirkt auch der Kontrast der Pappkameraden Großeltern, besonders, wenn der gefühlskalte Großvater seine Enkelin nach dem Verlust sich selbst überlässt.
Und auch die eingestreuten Texte (Anweisungen aus Salomons autobiografischem Lebenswerk „Leben? Oder Theater?“) und die musikalischen Zitate wie die „Habanera“ aus Bizets „Carmen“, Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ oder Schnipsel aus der „Ode an die Freude) intensivieren den Gefühlskontrast aus Leichtigkeit und Beklemmung, wie er im Verlauf des Werkes beim Zuhörer immer wieder aufkommt.
Charlotte Salomon starb 26-jährig und hochschwanger in einer Gaskammer im Konzentrationslager Auschwitz.
Auf der Bühne führt der Tod Charlotte in einem letzten Tanz aus ihren Bildern und damit aus ihrem Leben, bis das Schwarz beide verschluckt.
Der Tod hat keine Seele im Gegensatz zur Uraufführung der Ballettoper am Mir. Es war ein Ballett, wie man es dort vielleicht noch nie erlebt hat. Atemlose Stille herrschte im Zuschauerraum. Minutenlanger Applaus voll Anerkennung - und vielleicht auch ein bisschen überwältigter Erschöpfung - rauschte zum Schluss durch das Haus.

Autor:

Silvia Dammer aus Hagen

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