Die CDU fragt die Bürgerschaft

…in Gelsenkirchen. Bisher wusste ich gar nicht, dass Gelsenkirchen eine Hansestadt ist. So beschrieb die WAZ am 26. Juni 2013 in der Überschrift die Bürger Gelsenkirchens. Im weiteren Verlauf des Textes offenbart sich, dass tatsächlich die Bürger dieser Stadt um das Ausfüllen eines Fragebogens der lokalen CDU gebeten werden. Hoppla, dachte ich, endlich interessiert sich mal eine Partei wirklich für das, was uns wichtig ist. Ich war begeistert. Ein Klick auf den Link im WAZ-Artikel und schon befindet man sich auf der Interneseite der CDU-Gelsenkirchen. „Unter allen Teilnehmern werden attraktive Preise verlost!“. Ich rieb mir die Augen, das mag an der frühen Morgenstunde liegen. Ich dachte, mich verlesen zu haben. Also klickte ich in den Fragebogen und las: „Für die Teilnahme an unserem Gewinnspiel füllen Sie bitte das Adressfeld aus.“

Ich war verwirrt. Kein unüblicher Zustand, jedoch in diesem Falle extern geschaffen. Eine ernst gemeinte Bürgerbefragung soll in einem Gewinnspiel münden? Ist die CDU schon so weit gefallen, dass sie demokratisches Engagement mit Gimmicks schmücken will? Oder mag es dem neoliberalen Gedanken der Christdemokraten der Neuzeit geschuldet sein, sich Stimmen, Engagement und Informationen kaufen zu können? Was in Berlin funktioniert….ach lassen wir das. Es geht hier um Kommunalpolitik und da ist mir die CDU noch nicht besonders begegnet. Das Gute, so konnte sie mir auch noch nicht negativ auffallen. Das ist leider mit dem heutigen Tag und diesem Fragebogen vorbei.

Widmen wir uns doch einfach mal der Aufbereitung des Bogens und den Fragen. Mal schauen, ich bin ja doch neugierig, was ich als Bürgerschaft dieser Stadt bewirken oder verändern könnte (mit Hilfe der CDU versteht sich). Bewertet wird gemäß des Schulnotensystems von 1-6.

1. Wie ist Kinder- und Familienfreundlichkeit der Stadt?

Da bin ich raus. Fehlt da nicht ein „die“? Wer ist denn hier mit „Stadt“ gemeint? Die Stadtverwaltung? Zielt die Frage also darauf ab, ob ein Angebot der Kinder- und Familienbetreuung inklusive der Beratungen ausreichend angeboten wird? Oder sind hier die Menschen gefragt, welche Kindern das Spielen im Hinterhof verbieten? Oder bezieht sich die Frage auf Spielplätze, auf denen Vatti am Samstagnachmittag auch den Grill aufbauen kann? Diese Frage ist mit 1-6 überhaupt nicht zu beantworten.

2. Wie ist es um die Sicherheit in Ihrem Stadtteil bestellt?

Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es ein wenig Recherche im Internet und siehe da, man findet eine Kriminalstatistik für Gelsenkirchen aktuell aus dem Jahr 2012. Dort heißt es:

„Die Kriminalitätsrate 2012 sank um 4,95 Prozent“

Möchte man mehr über die Kriminalität in dieser Stadt wissen, so ist die Polizei NRW so freundlich und macht sich die Arbeit, eine entsprechende Statistik aufzubereiten und auszuwerten. Oder zielt diese Frage darauf ab, wie das Bauchgefühl der Bewohner in ihrem Stadtteil ist, um gleich jedem latent „Ich bin ja nicht rechts, aaaaber“-Menschen Grund zu geben, sich über seine Mitmenschen auszulassen, die einem anderen Kulturkreis angehören oder abstammen? Ich habe einfach nur eine Frage zu dieser Frage, welche einfach Fragen aufwirft. Die Fakten kann die CDU ganz einfach ergoogeln. Ich schaffe das ja auch.

3. Wie beurteilen Sie die Sauberkeit und Ordnung in Ihrem Stadtteil?

Ich gebe zu, dieser Punkt ist mittlerweile wirklich ein Thema in Gelsenkirchen geworden. Aber auch nicht ungefährlich. Es ist schon zu sehen, dass eine vermehrte Vermüllung das Stadtbild verändert. Die Ursachen mögen Verschiedene sein. Bürger wünschen sich jedoch bereits jetzt mehr Kontrollen durch Kameras, was dem Charakter der CDU in die Karten spielt. Schaut man ein wenig in die Tagespresse (hier noch was), dann wird einem schnell klar, wie die Menschen die Ordnung und Sauberkeit beurteilen, da bedarf es keines Fragebogens. Darüber hinaus beschweren sich Bürger immer und immer wieder, dass die Belastung von Hundekot im öffentlichen Raum nicht mehr zu ertragen ist. Hier passiert seit Jahren nichts. Was will die CDU mit dieser Frage bewirken, wenn die Antworten sich schon ganz leicht im Netz finden lassen und auch in der Vergangenheit nicht viel unternommen wurde?

4. Wie sehen Sie die Lage auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Gelsenkirchen?

Jetzt wird es richtig spannend. In Anbetracht der Schließungen von Opel, Stellenabbau bei RWE, E.On und Thyssen und damit die drohende Insolvenz der lokalen Lieferanten, wird die Hoffnung auf einen entspannten Arbeitsmarkt in Gelsenkirchen wohl sehr gering sein. Darüber hinaus werden Alternativen in der Leiharbeit oder als Minijob angeboten. Der Arbeitsmarkt und die entsprechend umgesetzten Reformen der Agenda 2010 haben doch nur Armut beschert. Mit dieser Frage soll sich die CDU im Klaren sein, dass sie den Arbeitsmarkt in Gelsenkirchen auch nicht beleben kann. Was will sie mit dieser Frage suggerieren? Dies ist nicht nur eine kommunale, auch keine nationale, nein – die Arbeitsmarktsituation ist eine globale Angelegenheit, die es mit konventionellen Maßnahmen nicht mehr zu regeln gilt. Es müssen neue volkswirtschaftliche Instrumente her und auch über Alternativen, wie das Bedingungslose Grundeinkommen oder auch den Mindestlohn, muss gesprochen werden. Nach diesen Alternativen fragt die CDU jedoch nicht.

5. Wie finden Sie das Kultur- & Freizeitangebot in Gelsenkirchen?

OK, die Frage ist gerechtfertigt. Zu viele Bürgerschaften meinen noch immer, in Gelsenkirchen sei nichts los. Das kann ich als Kulturschaffende nicht bestätigen, sonst wäre ich nicht so sehr mit Musik und Kultur beschäftigt. Auch für Menschen mit geringem Einkommen gibt es regelmäßig Möglichkeiten am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

6. Wie beurteilen Sie die Attraktivität des Wohnangebotes in Gelsenkirchen?

Gute Frage. Zumal es nicht nur um Attraktivität denn auch Bezahlbarkeit des Wohnangebotes geht. In Gelsenkirchen gibt es etwa 15.000 ALG II Bezieher (Stand Mai 2013). Sie können sich nicht einfach eine Wohnung aussuchen, sondern müssen ihre Kosten senken, wenn eine zu teure Wohnung bewohnt wird. Und es ist absehbar, dass die Zahl der ALG II Bezieher in Zukunft nicht sinken wird, es sei denn die Arbeitspolitik denkt sich schärfere Gesetze zur Agenda 2010 aus und fälscht weiter die Statistiken.

7. Wie ist die Situation Gelsenkirchens als Einkaufsstadt?

Nun ja, Gelsenkirchen ist stolze Repräsentantin von Primark und anderen Billigketten, wo Menschen mit wenig Geld viel einkaufen können , die dann damit die Billiglöhne und Missachtung von Arbeitsrechte auch im Ausland unterstützen. Alt eingesessene Läden und Familienbetriebe in den Stadtteilen sterben aus oder verlagern ihren Geschäftskern in die Innenstadt. Das kann für ältere Menschen nicht dienlich sein. Der Supermarkt um die Ecke stirbt aus und große Lebensmitteldiscounter lassen sich dort nieder, wo Menschen große Parkplätze mit großen Autos finden können. Nur was ist mit den Menschen, die gar kein Auto besitzen? Und was ist eben auch mit den Alten Leuten? Was würde die CDU mit der Auswertung entsprechender Informationen tun? Supermärkte in Stadtteilen bauen? Oder die Ommi mit ihrem Rollwägelchen persönlich zum Aldi auf die Grothusstraße schieben?

8. Wie ist es um das Straßen-, Radwege und Nahverkehrsnetz bestellt?

Allmählich, und wir haben die 8. Frage, kommt es mir so vor, als würde die CDU Gelsenkirchen sich gar nicht mit dieser Stadt beschäftigen. Liebe CDU, fahren Sie mal mit dem Auto durch Gelsenkirchener Straßen und Sie können sich selbst ein Urteil bilden. Frau Hannelörchen Kraft würde doch gerne beim NRW-Straßenbau viele, viele Millionen Euro sparen. Da können Sie zunächst auch nichts mehr tun. Die WAZ schreibt am 9.1.2013

„Dabei werden allein die Zuweisungen an die Kommunen für die Stadterneuerung um 20 Millionen Euro beschnitten – dickster Kürzungsbrocken in Groscheks Etat. Aber auch das Geld für den Um- und Ausbau von Landesstraßen, den Radwegebau und privaten Denkmalschutz will das Land um 20 Millionen Euro reduzieren.“

Nun, liebe CDU, würde die Bürgerschaft sagen, wir brauchen mehr Radwege und die Straßen sind oll, was würden Sie tun? Ihre Lieblingsfrage an die Opposition ist doch immer: „Wer soll das bezahlen?“ Die Frage gebe ich Ihnen gerne zurück.

9. Wie sehen Sie das Image der Stadt im Verhältnis zu anderen Ruhrgebietsstädten?

Macht es Sinn, wie im neoliberalen Ranking, immer den Vergleich mit anderen Städten anzustreben? Wäre es nicht sinnvoller zu fragen, wo Gelsenkirchen seine Stärken sieht? Man kann diese Stadt nicht mit Essen, Bochum und anderen Städten vergleichen. Jede hat ihren eigenen Charakter. Für das Image der Arbeitslosigkeit gibt es eine Quote, für das Image der Kultur gibt es eine Vielfältigkeit, die es in jeder Stadt gibt. Nur muss sie auch entdeckt und gefördert werden. Gelsenkirchen hat ein eigenes Image und hier wäre die Frage angebracht, welchen Charakter die Bürgerschaft ihrer (Hansestadt) Gelsenkirchen gibt. Lassen Sie die Bürger doch mal mitdenken und kreativ sein.

10. Wie beurteilen Sie das Schul- und Bildungsangebot?

Wie ist das gemeint? Bezieht sich die Frage auf die Kinder und Heranwachsenden? Oder sprechen Sie auch die Erwachsenenbildung an? Dazu habe ich in meinem Bericht bzgl. des Gespräches mit Frau Scharrenbach (CDU) bereits etwas geschrieben:

„Wenn wir von Bildung reden, handelt es sich zumeist um junge Menschen, die ihre erste Ausbildung angehen. Man muss sich also schon mit etwa 20 entschieden haben, was man bis zu Rente beruflich machen will. Ungeachtet dessen, dass ein Mensch sich verändert und auch damit die Neigungen und Fähigkeiten. Ich fragte, was die Politik für Menschen vorsieht, die sich in der Mitte ihres Lebens noch mal umorientieren wollen oder gar müssen. Eine Umschulung zu erlangen ist sehr, sehr schwer und es besteht auch kein Rechtsanspruch. Eine Ausbildung im dualen System gibt es kaum für junge Menschen, wie sollen Menschen ab 40 Jahren noch sicher eine Ausbildungsmöglichkeit finden. Bafög gibt es nur bis zu einem Alter von 30 Jahren und alle weiteren Ausbildungen müssen teuer bezahlt werden. Es geht nicht um das Schulgeld alleine, es ist eben nicht möglich, seine Lebenshaltungskosten zu organisieren, wenn man sich bilden will.“

Es geht also nicht nur um das Angebot, sondern auch um die Bezahlbarkeit in der Erwachsenenbildung. Und da sieht es schlecht aus, sehr schlecht!

11. Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem in Gelsenkirchen?

Aus meiner Sicht ist eins der größten Probleme die geringe politische Beteiligung der Bürger. Ich zweifel nicht daran, dass viele engagierte Bürger gerade auch im sozialen Bereich tätig sind. Geht es jedoch um ein politisches Engagement oder um den Besuch entsprechender Veranstaltungen, sieht es zumeist sehr mager aus. Da muss mehr passieren und die Bürger müssen abgeholt werden. Zu oft geben Gelsenkirchener ihre Verantwortung unreflektiert ab. Und mit politischer Auseinandersetzung meine ich nicht nur die Parteipolitische. Es gibt so viele Themen, die gesellschaftlich diskutiert werden müssen. Dazu gehört beispielsweise auch ein bundesweiter Volksentscheid. Wir Bürger haben gar nicht die Möglichkeit in politische Prozesse wirklich einzugreifen. Wir dürfen nur wählen oder uns in einer Partei engagieren. Aber nicht nur das ist Politik. Politik heißt auch mitmachen dürfen, Ideen auf den Weg bringen. In dieser Stadt sieht man nur die gleichen Gesichter, die etwas bewegen wollen. Wir werden jedoch nicht mehr. Geht es um politische Aktionen, ist in Gelsenkirchen Schicht im Schacht!

Sie sehen also, liebe CDU Gelsenkirchen, eine Befragung über unsere Sicht auf diese Stadt ist nicht in Noten von 1-6 zu fassen. Hierüber kann man keine Statistik führen. Gelsenkirchen ist mehr, viel lebendiger. Es müssen mehr Diskussionen her, viel mehr Austausch. Sie bekämen mehr über uns BürgerInnen mit, würden Sie mit uns reden. Vielleicht veranstalten Sie mal Diskussionsabende über diverse Themen parteiübergreifend in der Flora. Sie werden schnell feststellen, dass ein Fragebogen wie dieser dann eher was für den Rundordner ist.

Ach, übrigens, ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich auf die Gewinnspielteilnahme verzichte. Ich engagiere mich gerne für diese Stadt und verkaufe meine Stimme und Meinung nicht.

Autor:

Sandra Stoffers aus Recklinghausen

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