Verfolgung und Ermordung Gelsenkirchener Sinti und Roma im "Dritten Reich"

Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

Am 16. Dezember 1942 befahl Heinrich Himmler die Deportation sämtlicher noch im Reichsgebiet lebenden Sinti, Roma und anderer Fahrender in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau: "Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft (...) sind in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen". Mit diesem so genannten „Auschwitz-Erlass" wurde die Endphase des systematischen, rassistischen Völkermords an der Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma eingeleitet. Auf Grund dieses Erlasses wurden die Menschen ab März 1943 in das von Himmler zynisch „Familienlager" genannte Auschwitz-Birkenau (Abschnitt B II e) deportiert. Viele gingen schon nach wenigen Wochen an den grausamen Lebensbedingungen im Lager zu Grunde oder starben unter den Gewalthandlungen ihrer Bewacher.

Bereits weit vor diesem Datum mussten Sinti und Roma mit zunehmenden Repressalien und Demütigungen leben. In Gelsenkirchen richteten die nationalsozialistischen Behörden besondere "Zigeunerklassen" ein, in denen Sinti- und Roma-Kinder zunächst getrennt von den "deutschblütigen" Kindern unterrichtet wurden, bis sie die Schulen schließlich überhaupt nicht mehr besuchen durften. Die Nürnberger "Rassengesetze", die ab 1935 auf Sinti und Roma als so genannte "Artfremde" ebenso wie auf die jüdischen Bürger Anwendung fanden, verboten ihnen die Heirat mit den "Ariern". Mit dem so genannten "Asozialenerlass" des Reichsinnenministers vom April 1938 waren Sinti und Roma als so genannte "Landfahrer (Zigeuner)" pauschal gebrandmarkt und kriminalisiert worden. Ihnen wurden die Wandergewerbescheine abgenommen, in der Folge wurden den Menschen aber auch die staatliche Fürsorgeleistungen verweigert, viele Familien waren so plötzlich ohne Einkommen. Bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden Tausende der Menschen in die Konzentrationslager des "Dritten Reiches" verschleppt.

Der Regierungspräsident Münster hatte bereits im April 1930 eine Verfügung erlassen, welche die Städte aufforderte, so genannte "Zigeunerlagerplätze" einzurichten. Damit sollte die Überwachung der Sinti und Roma "verbessert" werden. In Gelsenkirchen wurden die vorgegebenen Maßnahmen der höheren Behörden noch weiter radikalisiert und die Verfolgung der "Zigeuner" verschärft. 1934/35 wurde der erste "Zigeunerlagerplatz" in Gelsenkirchen an der Cranger Str. 543 gegenüber dem Freibad Grimberg eingerichtet. Die Verfolgungsbehörden begannen, die Menschen aus ihren Wohnungen und von verschiedenen privaten Stellplätzen im Stadtgebiet Gelsenkirchens zu vertreiben und auf diesem Sammelplatz unter Polizeibewachung zusammenzufassen. 1936 schließlich waren alle bürokratischen und organisatorischen Maßnahmen getroffen, die Sinti und Roma auf dem Gebiet Gelsenkirchens auf dem Lagerplatz an der Cranger Straße zwangsweise zu konzentrieren. Im folgenden Jahr, 1937, wurde auf Initiative der städtischen Behörden - ohne Weisungen von übergeordneten Behörden - mit Drohungen und Schikanen gegen die Vermieter privater Stellplätze vorgegangen. Mit verschärften Kontrollen sollten alle Sinti und Roma, die sich in Gelsenkirchen aufhielten, auf dem Lagerplatz am Kanal untergebracht werden. Im April 1939 waren dann alle noch in Gelsenkirchen lebenden "Zigeuner" auf dem Lagerplatz an der Cranger Straße konzentriert. Im April 1939 wurden dort von der Verwaltungsstelle Buer des städtischen Polizeiamtes noch "45 Familien mit 237 Menschen in 51 Wagen" gezählt.

In Gelsenkirchen trugen "Beschwerden" über die "Zigeuner" im Lager an der Cranger Straße dazu bei, dass die Behörden die Verfolgungsmaßnahmen weiter verschärften. Beschwerdeführer waren u.a. die in direkter Nachbarschaft zum Lagerplatz gelegenen Betriebe der Deutsche Erdöl-Aktiengesellschaft (DEA), der die Zechen Graf Bismarck und Königsgrube gehörten und die Mannesmannröhren-Werke, Abteilung Steinkohlebergwerk aber auch Privatleute, die sich allein durch die Anwesenheit der Menschen belästigt fühlten. Vor dem Hintergrund dieser "Beschwerden" wurde am 15. Mai 1939 seitens der Stadt ein Internierungslager eingerichtet. Das Lager befand sich auf einem Areal an der Reginenstraße, zwischen den Deutschen Eisenwerken (Schalker Verein) und der Gelsenkirchener Bergwerk-AG (GBAG) mit ihrer Zeche und Kokerei Rheinelbe/Alma. Im Briefwechsel zwischen Unternehmen und Verwaltung ist schon zu diesem Zeitpunkt von einer "vorübergehenden Unterbringung" die Rede. Die Verantwortlichen bei der Stadtverwaltung Gelsenkirchen scheinen zu diesem Zeitpunkt schon gewusst zu haben, dass der weitere Leidensweg der Sinti und Roma ein Weg ohne Wiederkehr sein würde.

Der "Umzug" zum Zwangs-Lagerplatz Reginenstraße fand am 9. Juni 1939 statt. Die Wagen, dreißig an der Zahl, zogen in einer Kolonne von der Cranger Straße quer durch die Stadt zum Zwangs-Lagerplatz Reginenstraße in Bulmke-Hüllen (Luthenburg). Am 17. Oktober 1939 folgte als nächster Schritt ein allgemeines Verbot für Sinti und Roma, ihren Aufenthaltsort zu verlassen sowie der Auftrag an die Ortspolizeibehörden, die Betroffenen zu zählen und erkennungsdienstlich zu erfassen.

Der Völkermord an den Sinti, Roma begann jedoch nicht erst mit den Deportationen nach Auschwitz. Bereits im Mai 1940 wurde eine große Zahl Sinti und Roma in das so genannte "Generalgouvernement" deportiert. Unter diesen Menschen befanden sich auch zahlreiche Familien, die zuvor lange in Gelsenkirchen gelebt hatten. Sie waren, um den Schikanen von Kriminalpolizei, städtischen Dienststellen und der SA in Gelsenkirchen zu entkommen, nach Köln gegangen und lebten dort in einem Lager in Köln-Bickendorf. Dieses Lager war bereits 1934 erbaut und im April 1935 fertiggestellt worden. Zielsetzung war dabei - wie auch in Gelsenkirchen bei Einrichtung der Internierungslager an der Cranger Straße und der Reginenstraße - die konzentrierte, systematische Unterbringung und Überwachung dieser Bevölkerungsgruppe fernab der Stadtzentren. Am 21. Mai 1940 wurde das "Sammellager" in Köln aufgelöst, die etwa 1.000 Menschen wurden zum Bahnhof Deutz getrieben, dort in Viehwaggons verladen und in das "Generalgouvernemet" an die sowjetische Grenze verschleppt. In Polen starben viele der Sinti und Roma an Hunger, Kälte und Seuchen, die meisten von ihnen wurden jedoch unter SS-Bewachung zur Zwangsarbeit eingesetzt und so zu Tode geschunden.

Die Organisation und praktische Durchführung der Deportation der Gelsenkirchener "Zigeuner" nach Auschwitz-Birkenau oblag der staatlichen Kriminalpolizei, und hier dann der Kriminalpolizeistelle Recklinghausen mit ihrer Kriminal-Inspektion III Gelsenkirchen. Zur Aus- und Durchführung wurden weitere Dienststellen der verschiedenen Verfolgungsbehörden hinzugezogen. Aufgrund des "Auschwitz-Erlasses" wurden die noch in Gelsenkirchen lebenden Sinti und Roma am 9. März 1943 in dem Internierungslager an der Reginenstraße im Zuge der anstehenden Deportation festgenommen, in das Polizeigefängnis Gelsenkirchen gebracht und von dort weiter nach Bochum transportiert. Am 10. März wurden auch in Bochum und Wattenscheid weitere Sinti und Roma verhaftet. Sie alle werden am 11. März zusammen mit vielen anderen Sinti und Roma aus der näheren Umgebung am Bochumer Nordbahnhof in einen Zug mit Viehwaggons verladen und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Der Gelsenkirchener Kriminalsekretär Wilhelm Gansel vermerkte 1943 in einer Aktenotiz: "Mit einer Rückkehr nach hier ist nicht mehr zu rechnen."

In den Lagerbüchern von Auschwitz ist die Ankunft der aus Gelsenkirchen und den umliegenden Städten verschleppten Sinti und Roma am 13. März 1943 festgehalten. Durch Arbeit, Zwangsarbeit, Hunger und Krankheiten, durch medizinische Experimente und Zwangssterilisationen wurden die Menschen gnadenlos ausgelöscht. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten in Auschwitz-Birkenau verbliebenen 2.900 Sinti und Roma im Gas erstickt. Allein in Auschwitz wurden mehr als 20.000 Sinti und Roma ermordet. Nach neueren Schätzungen fielen europaweit 500.000 Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer, einem Verbrechen, das in seinem Ausmaß bis heute unvorstellbar bleibt.

Am 16. Dezember 2010 findet in Gelsenkirchen eine Gedenkveranstaltung für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Angehörigen des Volkes der Sinti und Roma statt. Treffpunkt: 19:00 Uhr, Ostpreußenstraße, Ecke Exterbruch (Bogestra-Busdepot).

Autor:

Andreas Jordan aus Gelsenkirchen

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