Im Spiegelkabinett Das Theater glassbooth experimentiert mit „Sechs Gramm Caratillo“.

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Eine winzige Bühne. Darauf: Ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe, eine kleine Leinwand. Davor: Knapp 50 Zuschauer. Für mehr Schaulustige soll kein Platz sein. Das Licht ist gedämpft. Ein Kameramann (Timo Knop) stellt sich an den Bühnenrand, um das Publikum durch sein Objektiv dabei zu beobachten, wie es reagiert, wenn die namenlose Protagonistin (Nora Bauckhorn) die Bühne betritt und ihre ersten Worte direkt an die Menge richtet: „Dies ist kein normaler Theaterabend.“

Sie wird Recht behalten, denn allein der Stoff, den sich die freie Theatergruppe ausgesucht hat, ist besonders: Es handelt sich um ein Hörspiel aus der Feder von Horst Bienek, das 1960 von Klaus Kinski mit somnambulen Tonfall eingesprochen wurde. Hörbar ermüdet von seinem Leben wird der von Kinski verkörperte Medizinstudent sechs Gramm Caratillo, ein mexikanisches Gift, im Selbstversuch zu sich nehmen, um die letzte halbe Stunde seines Lebens für die Nachwelt auf Tonband aufzuzeichnen und seinem Sein nachträglich mehr Sinn zu geben.

Um den inszenierten Selbstmord auf die Bühne zu bringen, hat sich Nora Bauckhorn die Textvorlage auf den Leib geschrieben und aus dem Medizinstudenten eine Schauspielerin gemacht, die ihr Leben nicht für die Wissenschaft sondern für die Kunst opfern wird. Bei der Einnahme der tödlichen Substanz wird sie sich und ihr Publikum vom Kameramann filmen und das Video danach im Internet veröffentlichen lassen.

„Das Ganze dauert etwa eine Stunde und niemand darf vor dem Ende den Raum verlassen.“ In diesen letzten 60 Minuten der Hauptfigur wird sie ihr Leben an sich und dem Betrachter vorbeiziehen lassen. Als zynische Performance, die die Zuschauer als gesichtslose und sensationslüsterne Gaffer indentifizieren soll. Und den einzelnen Menschen als divenhaften Schaupieler, der seinen Willen zur Selbstinszenierung über alles stellt. Doch so einfach macht es einem das Ensemble nicht.

Kinskis Stimme ertönt aus den Lautsprechern. Doch es ist nicht Kinskis Stimme sondern die von Jörg Schulze-Neuhoff, der Kinskis Sprachmelodie perfekt nachahmt: „Es ist 22 Uhr 30, halb elf genau. Ich trinke jetzt ein Glas Wasser mit sechs Gramm Caratillo.“ Dazu ein Einspieler einer Uhr auf der es eine Stunde später ist. Und die Schauspielerin, die Kinski kommentiert und erklärt, dass sie kein Caratillo hätte bekommen können. Nur irgendein anderes Gift.

Spätestens jetzt sollte jedem Besucher klar geworden sein, dass sich hinter der Theateradaption nicht nur der nachgesprochene Monolog in intimer Runde verbirgt, sondern eine Spiegelung des vermeintlichen Realismus der Geschehnisse auf der Bühne und deren Wahrnehmung von außen.

Dafür hat Regisseur Jens Dornheim die Inszenierung mit einer Vielzahl von technischen Mitteln zu einer kaleidoskopartigen Collage ausgebaut. Die Kamerabilder werden in regelmäßigen Abständen auf die Leinwand projiziert, sodass sich das Publikum selbst oder die Protagonistin aus einem anderen Blickwinkel sehen kann.

Während die Hauptfigur von ihrer Entfremdung und ihrer unbestimmten Sehnsucht erzählt, die ihr Leben bestimmt hat, unterstützen die meist in schwarz/weiß gehaltenen Visuals (Thaisen Stärke) ihre Geschichte. Sie bestehen aus Filmschnipseln und Fundstücken aus dem Internet, die an einigen Stellen eine gesellschaftskritische Lesart unter die Worte von Nora Bauckhorn legen.

Wenn es dann um die unglückliche Liebe der Schauspielerin zum Vater ihres hübschen Boyfriends geht, persifliert ein von Sascha Bisley produzierter Stummfilm, den für die Hauptfigur so tragischen Konflikt und führt ihn als naiv und aus der Zeit gefallen vor. Doch genau daran leidet die Hauptfigur. An der Zeit, an der Andersartigkeit und an nicht verblassen wollenden Erinnerungen, an ihrem Blick auf die Welt und daran, wie die Welt auf sie zurück blickt. Sie leidet an ihrer eigenen Person, die sie nicht mehr ertragen kann, die sie abstossen muss, um eine andere werden zu können. Eine Häutung, die Nora Bauckhorn durch immer intensiver werdendes Spiel gelingt.

Doch der Blick darauf bleibt distanziert, denn in der glassbooth'schen Inszenierung wird Bieneks Original zu einem Zerrbild, das jeden Wirklichkeitsanspruch als oberflächlich und jede Lesart als anachronistisch darstellt. Ein gelungenes Experiment im Spiegelkabinett, das es dem Zuschauer nicht einfach machen, sondern polarisieren will.

Marcus Krieger

Weitere Vorstellungen:

Sonntag, 17.05.15 um 19.30 Uhr, Rottstr 5 Theater, Bochum Donnerstag 25.06.15 um 20.00 Uhr, Sissikingkong, Dortmund

Kartenreservierung:

www.glassbooth.de

Autor:

Frank Gebauer aus Oberhausen

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