Trauma 1988: Das Gladbecker Geiseldrama wirkt bis heute nach

Dieter Degowski (links) während des Gladbecker Geiseldramas 1988. Sein Komplize Rösner (mit Vollbart) ist noch in Haft. Vorne hinter der Haltestange verborgen ist das spätere Opfer Silke Bischoff. Foto: Archiv
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  • Dieter Degowski (links) während des Gladbecker Geiseldramas 1988. Sein Komplize Rösner (mit Vollbart) ist noch in Haft. Vorne hinter der Haltestange verborgen ist das spätere Opfer Silke Bischoff. Foto: Archiv
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Am 16. August vor 30 Jahren nahm in Gladbeck einer der spektakulärsten Kriminalfälle der Nachkriegszeit seinen Lauf. Was mit einem missglückten Banküberfall in der Schwechater Straße begann, entwickelte sich zu einem grotesken Drama, das am Ende drei Menschenleben fordern sollte. Was haben Polizei und Medien nach diesem Debakel gelernt? Und wie präsent ist das Gladbecker Geiseldrama noch heute?

von Oliver Borgwardt

"Ich kann es nicht mehr hören! Irgendwann muss doch mal Schluss sein", ist der zu erwartende Tenor, wenn in Gladbeck wieder einmal an die Ereignisse im August 1988 erinnert wird. Tatsächlich möchten vor allem ältere und lokalpatriotische Gladbecker am liebsten vergessen, dass ihre Stadt zum Ausgangspunkt für eine 54-stündige Verfolgungsjagd durch die Republk wurde, ausgeführt durch zwei Gladbecker Gangster.

Der Ablauf der Geschehnisse liest sich wie das Drehbuch zu einem schlechten Actionfilm: Die beiden Berufsverbrecher Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner bringen am Morgen des 16. August nach einem gescheiterten Banküberfall zwei Angestellte in ihre Gewalt. Aus Angst um die Geiseln lässt die Polizei die Verbrecher am Ende des Tages in einem bereitgestellten Fahrzeug entkommen. Die Beamten hoffen, dass sich die Gangster im Schutze der Nacht sicher fühlen und die beiden Geiseln freilassen,

Nächtliche Irrfahrt durch Gladbeck

Doch Degowski und Rösner setzen sich nicht etwa ab, sondern kurven zunächst stundenlang durch Gladbeck. Dabei machen sie sich keine Mühe, unsichtbar zu werden: Höchstpersönlich betritt Rösner mit gezogener Waffe die Imbissbude "Mostar", stellt sich als der "Bankräuber aus Gladbeck" vor und bestellt Frikadellen, Schnitzel und ein Hähnchen. Dem verdutzten Angestellten drückt er einen Hundertmarkschein aus der Beute in die Hand.

Dann düsen die beiden Verbrecher zur Barbaraapotheke in der Innenstadt, um das Beruhigungsmittel Vesparax und ein Mittel gegen Übelkeit zu besorgen - letzteres für die männliche Geisel, der die Aufregung auf den Magen geschlagen ist. Zuvor hatten die Gangster noch einen zufällig vorbeikommenden Bekannten angehalten, damit er ihnen Kippen bei der Esso-Tankstelle an der Horster Straße besorgt. Ebenso schicken sie einen Jungen vom Auto aus zu einem Kiosk, um Bier zu kaufen.

Die Irrfahrt durch ihre Heimatstadt ist damit aber noch nicht vorbei.

Mit dem Ausruf "Der Nikolaus ist da" poltert Rösner in die Gaststätte Berg an der B224, weil er einen BMW 635 vor der Tür entdeckt hat. Den will er als Fluchtfahrzeug requirieren, aber der Besitzer aus Essen gibt sich wohlweislich nicht zu erkennen. Ärgerlich feuert Rösner seine Pistole daher quer durch die Kneipe ab, verfehlt nur knapp einen Gast. Sein Komplize Degowski, der draußen Schmiere steht, versucht der Forderung seines Kumpanen durch einen weiteren Schuss durch die Scheibe der Gaststätte Nachdruck zu verleihen - aber der BMW bleibt verschlossen. Verärgert ziehen die Gangster wieder ab.

Die Schwäche Rösners für bayrische Oberklasseautos wird aber nur 15 Minuten später wieder deutlich: Vor einer Gladbecker Spielhalle hält er dem Fahrer eines anderen BMW die Waffe ins Gesicht, scheucht ihn aus dem Fahrzeug. Der Raub erweist sich aber als Flop: Der Wagen ist alt und der Motor macht Probleme, zudem gibt es kein Radio, das über aktuelle Entwicklungen informieren könnte. So rollen Degowski und Rösner mit ihren beiden Geiseln zurück zur Esso-Tankstelle, wo sie ausgerechnet auf einen ortsfremden Polizisten außer Dienst treffen. Der Beamte, der auf dem Rückweg vom Einsatztag nur günstig tanken wollte, muss Rösner seine Dienstwaffe und sein Funkgerät aushändigen. Letzteres zwingt die Einsatzkräfte, auf einen anderen Funkkanal zu wechseln, was für Kommunikationsprobleme bei der Verfolgung führt.

Zum Glück für die Polizei steht an der Esso nicht nur der unglückliche Kollege, sondern auch ein präparierter Mercedes. Ihn hatte die Einsatzzentrale in der Hoffnung dort abgestellt, dass sich die Gangster ein neues Fluchtfahrzeug besorgen wollen - und tatsächlich tappen Degowski und Rösner in diese Falle. Verbrecher und Geiseln steigen in den Mercedes um, obwohl er ihnen verdächtig sauber vorkommt.

Zur Verblüffung der verfolgenden Beamten fahren die Täter aber immer noch nicht aus der Stadt.

Stattdessen sammeln sie kur vor ein Uhr nachts erst Rösners Geliebte Marion Löblich vor der Gladbecker Wohnung ihrer Schwester auf. Erst jetzt, über drei Stunden nach der Abfahrt von der Deutschen Bank, machen sich die beiden Kriminellen mit ihrer Komplizin und den beiden Geiseln auf den Weg aus der Stadt heraus.

Hier nahm das Drama seinen Lauf: Das Hochhaus an der Schwechater Straße beherbergte einst die Filiale der Deutschen Bank. Die beiden Verbrecher wollten hier mit einem Überfall schnelles Geld machen. Foto: Archiv
  • Hier nahm das Drama seinen Lauf: Das Hochhaus an der Schwechater Straße beherbergte einst die Filiale der Deutschen Bank. Die beiden Verbrecher wollten hier mit einem Überfall schnelles Geld machen. Foto: Archiv
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Versagen von Polizei und Medien

Der Rest der Flucht ist wohlbekannt: Die Gangster fahren nach Bremen, kapern einen Linienbus mit Passagieren, fliehen damit zu einer Autobahngaststätte. Hier wird Marion Löblich ohne Zustimmung der Einsatzleitung festgenommen, was Degowski derart in Rage bringt, dass er der erst 14 Jahre alten Geisel Emanuele De Giorgi in den Kopf schießt.

Minutiös verfolgt werden die Gangster aber nicht nur von der stellenweise hilflos und zögerlich wirkenden Polizei, sondern auch von einer großen Schar sensationslüsterner Journalisten, die distanzlos und rücksichtslos filmen und fotografieren. Sogar vor Interviews mit den übernächtigten und durch Tabletten und Alkohol aufgeputschten Geiselnehmern schrecken die Reporter nicht zurück. Unter den Journalisten, die an diesen Tagen ihrem Berufsstand keine Ehre machen, befinden sich so prominente Profis wie Hans Meiser (RTL), Udo Röbel (später Bild-Chef) und der spätere Moderator Frank Plasberg.

Den schändlichen Gipfel der Distanzlosigkeit erklimmen die Medien am 18. August: Umlagert von Reportern, parkt der nach der Bus-Katastrophe von der Polizei bereitgestellte Fluchtwagen der Gangster am hellichten Tag in der Kölner Innenstadt. Die Fotografen ermuntern Degowski, der 18-jährigen Geisel Silke Bischoff die Waffe an den Kopf zu halten, bringen den Verbrechern Kaffee und vereiteln schließlich sogar den Zugriff durch getarnte Zivilbeamte. Das erhöht den Druck auf die Behörden, der aberwitzigen Posse endlich ein Ende zu bereiten: Am Ende wird ein riskanter Zugriff mitten auf der Autobahn genehmigt und durchgeführt, bei dem Silke Bischoff durch eine Kugel aus Rösners Pistole ums Leben kommt.

Die Geiselgangster Degowski und Rösner (gespielt von Alexander Scheer und Sascha Gersak) kehrten 2018 in dem ARD-Zweiteiler "Gladbeck" auf dem Bildschirm zurück. Nicht jedem in der titelgebenden Stadt gefällt das. Foto: ARD Degeto/Ziegler Film/Martin Valentin Menke
  • Die Geiselgangster Degowski und Rösner (gespielt von Alexander Scheer und Sascha Gersak) kehrten 2018 in dem ARD-Zweiteiler "Gladbeck" auf dem Bildschirm zurück. Nicht jedem in der titelgebenden Stadt gefällt das. Foto: ARD Degeto/Ziegler Film/Martin Valentin Menke
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Nachwirkungen

Das Gladbecker Geiseldrama sorgte für ein Beben in der Medienwelt und der Polizeiführung. Die völlig aus dem Ruder gelaufene Sensationsberichterstattung, bei der sich Teile der Journaille zu Komplizen der Verbrecher hatten machen lassen, rief den heiligen Zorn des Presserates auf den Plan. Noch im selben Jahr wurde der Pressekodex verschärft, wobei es den Angehörigen der schreibenden Zunft nun ausdrücklich untersagt ist, Täter bei einem laufenden Verbrechen zu interviewen oder die Arbeit der Polizei zu behindern.

Auch die Polizei bekam Ärger: Für die vielen verpassten Zugriffschancen, die zögerliche Führung und die schlechte Koordination, sowie die für eine Geisel tödliche Aktion auf der Autobahn regnete es Kritik. Der Bremer Innensenator Bernd Meyer nahm seinen Hut, während der NRW-Innenminister Herbert Schnoor (SPD) trotz zahlreicher Rücktrittsforderungen stur im Amt blieb. Seine Argumentation: Es habe keine falschen Entscheidungen gegeben, "sondern nur einen Mangel an richtigen". Um in Zukunft mehr richtige Entscheidungen zu treffen, wurde die Einsatzdoktrin der Polizei gründlich überarbeitet.

Und in Gladbeck selbst?

Das berüchtigte Verbrechen würde man in der Stadt am liebsten vergessen machen. Da es wenig sonst gibt, was die unspektakuläre Ruhrgebietsgemeinde national bekannt machen könnte, wird Gladbeck vor allem von Auswärtigen sofort mit dem Geiseldrama in Verbindung gebracht. So werden Gladbecker auf Reisen immer wieder auf die dunkle Episode ihrer Geschichte angesprochen. Auch ein aufwändig produzierter ARD-Zweiteiler über das Geiseldrama hatte die Kritiker auf den Plan gerufen.

Dennoch ist das Interesse an den Ereignissen vor 30 Jahren groß. Bei den Dreharbeiten für den Film kamen viele Freiwillige, um sich als Statisten zu bewerben, und die Freilassung von Degowski 2017 wurde vor Ort heftig diskutiert. Noch heute kann man die Ruine des Hochhauses mit der ehemaligen Deutschen Bank an der Schwechater Straße finden - dem Ort, an dem sich die Geschichte von Gladbeck für immer verändert hat.

Es scheint, dass die 54 Stunden des August 1988 noch lange nachwirken werden.

Autor:

Oliver Borgwardt aus Dorsten

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