Wie ich beim 29. UTD-Festival gesüdet wurde

nur eine der vielen spektakulären Szenen — und nein, hier geht es nicht um Star Wars. Das ist der, der mit der LED tanzt: Mr Poipower
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  • nur eine der vielen spektakulären Szenen — und nein, hier geht es nicht um Star Wars. Das ist der, der mit der LED tanzt: Mr Poipower
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Musik verziert die Dimension der Zeit; Bewegung wiederum lässt die Zeit zur Kraft werden — und Tanz, das Bündnis aus Musik und Bewegung, verschweißt Zeit zum Erlebnis. Und von Erlebnissen solcherart wurde ich gestern beim Up To Dance Festival #29 in Gladbeck überschüttet. Ein Augen- und Ohrenzeugenbericht.

Bevor ich es im Überschwang vergesse… Sie fragen sich bestimmt, was „süden“ bedeutet! Ich sag´s Ihnen: Wenn Landkarten mit dem Süden nach oben ausgerichtet werden (wie australische Kartographen es zu tun pflegen), dann spricht man von „gesüdeten Landkarten“ — die stehen dann im wahrsten Sinne Kopf. Und so stand ich gestern vor Begeisterung Kopf. Ernsthaft!

Aber erst mal auf Anfang:
Tanz war die erste Kunstform des Menschen. Ganz sicher! Das kann ich zwar leider nicht beweisen — denn im Gegensatz zu versteinerten Flöten aus Tierknochen haben Paläontologen noch keine Anleitung für Tanzschritte und Choreografien auf Mammutpergament ausgegraben — aber der gestrige Abend beweist mir: Tanz ist urmenschliche, schöpferische Kraft, die dem Homo Sapiens wahrlich in den Knochen steckt! Nur so lässt sich die Intensität, die Energie, die Freude erklären, die von einem Hotspot namens Bühne aus in den Saal der mit ca. 300 Gästen gefüllten Mathias-Jakobs-Halle in Gladbeck funkte! Augen wurden zum leuchten und Ohren zum schlackern gebracht, denn visuell und auditiv waren die Gäste in schlaraffenlandartiger Weise überversorgt. (Rechenspiel: etwa 300 Gäste und deutlich über 400 TänzerInnen; da kommen auf jeden Zuschauer glattgestrichene 1,3 Akteure auf der Bühne — das ist wahre Überflussgesellschaft)

Und es war großartig!
Zurücksinnend schrieb ich auf dem Nachhauseweg in meine Memo-App, unmittelbar und uneditiert: „Kleider, die glitzerten, als ob sie das Innere eines prall gefüllten Diamanten-Safes wären und Lichtstrahlen, die die dunstige Bühnenluft in mamorartige Scheiben verwirbelten Nebels schnitten. Luxus für die Augen. Die tun bestimmt Endorphine in die Nebelmaschine. Nein, das haben die nicht nötig, das ist alles Talent. Und Herzblut. Nicht mehr, aber vor allem nicht weniger, denn mehr braucht man nicht. Bewegtes Raunen beim klassischen Ballett und aufgeputschtes Jubeln beim Hip-Hop-Tanz als auditiver Gemütsindikator beim Publikum. Solokünstler, die während ihres Auftritts jeden Kubikzentimeter Luft mit ihrer Passion sättigten. Und dann wieder große Gruppen, an Unübersichtlichkeit grenzende Haufen miteinander agierender Körper, positiv reizüberflutend. So viele Momente, die in kinetischer Narration verwandelt die Aufmerksamkeit fesselten. Geschichten, ganz greifbar durch Tanz erzählt. Eine Huldigung der Körperlichkeit des Menschen mit Wow-Faktor. …Es wäre ein Verrat an der Sache, das Alles in Buchstaben übersetzen zu müssen… soviel geht verloren. Da wurde ein derart vielseitiger Querschnitt der Stile präsentiert! Tanzlandschaftsgemälde.“

Bei dem Versuch, zusammenzufassen, was mir am besten gefallen hat, fühle ich mich so aufgeschmissen und überfordert, wie Elton John in einem Fachgeschäft für skurrile Brillen… Wo soll ich anfangen?

Ich war beispielsweise sehr angetan von der Idee der Jugendgruppe „Start-Up“, die mit ihrem Projekt Kids for earth gleich die ganz starken Geschütze der gesellschaftlichen Relevanz auffuhren: Sie vollführten einen Tanz um das Thema Plastikmüll, bei dem dieser in Form von Folien und Flaschen überfordert-panisch von einer Hand zur nächsten gereicht wurde, nur um ihn und die Verantwortung für ihn anschließend loszuwerden. Sie setzten die ökologische Kurzatmigkeit unserer Welt dadurch perfekt um. Das Finale war übrigens ein kleines, hochgerecktes Bäumchen als Dingsymbol der Hoffnung und Banner der Naturliebe, passend dazu umhüllt von biosiegelgrünem Licht. Das war schon stark.

Oder „Rise Up“, mit ihrem Tanz der Technologie-Ausgeliefertheit, bei dem sie sich gegenseitig mit leuchtenden Smartphonebildschirmen abscannten, untermalt von dystopisch-hartem Electrosound. Akrobatisch mutig, ausgelassen und absolut sehenswert waren die „Freestyle Dancers“, die sich in der Rolle von Puppen zunächst durch eine Zugseilapparatur aufziehen ließen, um sich dann von ihresgleichen durch die Luft wirbeln zu lassen. Die Gruppe „[RI:´SET]“ (…der Name ist definitiv passworttauglich) imitierte geschmeidig die Bewegung von Wasser, die Kompanie „anders.“ tanzte Ballett mit einem Extrakick Energie zu Songs von Linkin Park. Und da waren noch so viele andere tolle Künstler, die alle in ihrem Genre überzeugten, begeisterten, strahlten.

Und akustisch?
Da waren einerseits Bässe, die wie Röntgenstrahlen durch den Körper schossen, die die Lunge als Resonanzkörper nutzten, um einen zweiten, kräftigeren Puls zu bilden. Und andererseits erschallten zarte Klänge, die wie Tautropfen von einem Saiteninstrument in der Dämmerung herabfielen und für die Ohren funkelten. Und wie die Musik, so der Tanz: von eskapistisch ausgelassen bis emotional anmutig war alles dabei. Das war wirklich ein klasse Abend.

Begeistert hat mich persönlich auch die Musikauswahl der Kompanien, denn ein paar mal tanzten sie zu Tracks, die auch auf meiner privaten Playlist gern gesehene Stammgäste sind; ich habe mich gefreut wie ein kleiner Junge, zwischendrin Flume (Lordes Tennis Court-Remix) und Nero (die ZHU-Kollaboration) zu hören — zu deren Musik hatte ich ohnehin schon eine frachtschiffgroße Präferenz, aber mit Tanz dazu führte es meinerseits nur noch zu beseeltem Grinsen — ein Grinsen breit wie ein aufgemotzter Bentley. Ich bin ganz sicher, dass wieder andere Gäste mit anderem Geschmack genauso auf ihre Kosten kamen, denn schließlich ist bei soviel Vielfalt grundsätzlich für jeden etwas dabei. (Das ist keine Pauschalisierung, das ist Höchstwahrscheinlichkeitsrechnung)

Auch auf die Gefahr, dass ich mich wiederhole: ich hatte richtig viel Spaß, war beeindruckt, gefesselt, ich war neugierig, überrascht und wurde vollgepumpt mit schönen Erinnerungen (Siehe die Bildergalerie).

Nur einen Wermutstropfen gibt es, und selbst dieser ist eine Würdigung: in Ermangelung ausserkörperlicher Erfahrungen werden die darstellenden Künstler in der Momentaufnahme ihres Schaffens bestenfalls nur ansatzweise erspüren können, wie sie zu sehen sind, wie man ihre Begeisterung — die als Antriebsfeder jeder Körperfaser fungiert — fühlen kann, und wie die Köpfe im Publikum den in Bewegung umgesetzten Leidenschaften aus interessierter Faszination heraus wie ferngesteuert folgen. Die TänzerInnen verausgaben sich in dieser Passion und das Staunen der Zuschauer erreicht sie zwar zeitversetzt durch den Applaus — aber dieses unmittelbare Bild ihrer Kunst bleibt ihnen augenblicklich, jetzt-zeitlich selbst verschlossen. Das wurde mir mitten im Programm bewusst (und stimmte mich doch etwas sentimental).

Und so entgeht ihnen die Schönheit des Augenblicks, den sie selbst erschaffen haben. Ein Grund zum sich verneigenden Dank.

TiK

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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