Auf der Insel ...

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Sand in meinen Schuhen

Vor mir liegt der etwas beschwerliche Aufstieg über die Düne, die wie ein grüner Schutzwall den Blick aufs Meer versperrt. Weht der Wind aus Westen, weist ein ununterbrochenes, gleichmäßiges Rauschen den Weg zum nahen Strand. Ab und an mischen sich die lang gezogenen, klagenden Schreie einiger Möwen in diesen ruhigen Akkord. Auf dem Dünenkamm angelangt, halte ich an, wie es wohl jeder macht, dem dieser grandiose Ausblick plötzlich zu Füßen liegt und der ihn einfach überwältigt. Weite, unendliche Weite, soweit ich schauen kann. Irgendwo in dieser unwirklichen Weite ein Horizont, wo bei klarem Wetter der Himmel sein Blau mit dem des Wassers mischt.

Bei dunklem Wetter ein völlig anderes Bild. Schwere, tief hängende Wolkenmassen türmen sich drohend auf oder werden vom Sturm über mich hinweg gepeitscht. Nur die weißen Schaumkronen der anrollenden Brandungswellen krümmen sich hell vor dem Grau von Strand, Wasser und Himmel. Selbst ein Pulk Möwen, sonst ständig in der Luft auf Futtersuche, ruht sicher am Strand. Sauber ausgerichtet mit Kopf und Brust gegen den Wind, um möglichst wenig Widerstand zu bieten. Ein schönes Bild: wie zum Appell angetretene Soldaten.

Heute aber zeigt der Himmel über mir ein tiefes, intensives Blau, das sich in einem unmerklichen Verlauf ganz allmählich am Horizont mit einem dunstigen, warmen Grau der Farbe des Wassers anpasst.
Noch genieße ich den weiten Blick über Wasser und Strand. Nur ganz selten schieben sich kleine, weiße Wolken vor die Sonne, die noch halbhoch in Ost/West über den Dünen steht, und lassen scharf begrenzte Schattenflecken über das sonst gleißend helle Panorama gleiten. So, als wolle der Himmel diesem grandiosen Bild noch ein paar Akzente hinzufügen.

Mit kurzen, schnellen Sprüngen hüpfe und rutsche ich den steilen, sandigen Pfad hinunter. Im unteren Drittel gibt es kein Halten mehr. Durch den tiefen, losen Sand kann ich mich nur noch mit langen Schritten bis zum Fuß der Düne treiben lassen, wobei meine schwingenden Arme mich in Balance halten. Wenn bisher noch kein Sand in meine Schuhe gelangt war, dann geschieht es jetzt.

Vorbei an einigen ölig glänzenden Sonnenanbetern, die immer dicht unterhalb der Dünenübergänge ihre bunten Decken, Liegen und Windschirme ausbreiten, um sich möglichst wenig durch den losen Sand bewegen zu müssen, laufe ich zum Wasser. Ein paar Kinder toben einem Ball hinterher und hüpfen laut johlend ins hoch aufspritzende Wasser. Etwas abseits mühen sich augenscheinlich ein paar junge Väter damit ab, zwei Winddrachen steigen zu lassen. Immer wieder schießen die Drachen nach einigen wilden Spiralen und Kapriolen zu Boden. Ungeduldig springen die enttäuschten Kinder zwischen abgestürzten Drachen und ratlosen Vätern hin und her, geben lauthals ihre Kommentare ab.

Nach rechts oder links? Mehr als zwei Möglichkeiten, die einzuschlagende Richtung zu wählen, gibt es hier nicht. Ich entscheide mich für links – also nach Süden. Hier sind die wenigsten Menschen unterwegs. Oft begegne ich kilometerweit niemandem. Um mich nur Wasser, Sand und über mir Himmel, Sonne, ein paar winzige Wolken. An meiner Seite Möwen und kleinere Seeschwalben, die dicht über der Wasseroberfläche schweben, um nach Beute Ausschau zu halten, auf die sie sich pfeilschnell stürzen – mal mit, mal ohne Erfolg.

Meiner Schuhe werde ich mich erst auf dem Rückweg entledigen, um barfuß durch das lauwarme Wasser auf dem festen Sand des Ufersaums laufen zu können. Jetzt geht es erst mal etwas höher am Strand entlang durch lockeren Sand, auf dem es mit festen Schuhen angenehmer zu gehen ist – auch wegen der vielen Muscheln, die von der letzten Flut hier angeschwemmt wurden. Immer wieder senke ich meinen Blick zum Boden, um nach besonders ausgefallenen Exemplaren Ausschau zu halten. Hier und da hebe ich eine von ihnen auf, wenn mir Farbe und Form besonders gefallen. Wie in jedem Jahr, das ich hier verbringen kann, stopfe ich mir wie ein kleiner Junge die Taschen mit ihnen voll. Die schönsten Stücke verschenke ich später an meine Kinder, Enkel und Freunde, bei denen sie dann auf den Fensterbänken verstauben. Aber, was sein muss, muss sein.

An einigen Stellen hat die Flut kleine Priele in den Strand gegraben, an deren Seiten das Wasser den feinen Sand zu wellenförmigen Mustern geformt hat, die denen der wunderbaren, abstrakten Steingärten japanischer Zen-Mönche gleichen. Diese bestehen nur aus einigen großen Steinen, die aus wellenförmig geharktem Sand oder Kies herausragen. Ruhende Steine, dazu Wasser und Sand, ständig von Gezeiten und Wind bewegt – das sind Metaphern für die ewigen Veränderungen des Lebens, wie sie nicht eindringlicher sein könnten. Kadaver toter Seevögel und anderer Meerestiere, deren Federbälger oder abgenagte Skelette und gebleichte Panzer an einigen Stellen von der Ebbe zurückgelassen wurden, vervollständigen das Bild. Erinnern mich an die Vergänglichkeit, an den Wandel und Kreislauf allen Lebens – und meinen Anteil daran.

Hinter mir plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch – wie von einem fernen Gewitter oder einem leisen Trommelwirbel. Ich bleibe stehen. Meine Hand schützend über die Augen gewölbt, blicke ich zurück über den grellweißen Strand. Das Trommeln wird stärker. In der Ferne erspähe ich einige dunkle Punkte. Wanderer, Strandpfähle? Nicht zu erkennen. Die Luft über dem heißen Sand flimmert, die Punkte scheinen sich zu bewegen, kommen näher und näher, das Trommelgeräusch wird lauter. Und jetzt spüre ich auch, wie der Boden unter meinen Füßen leicht bebt.

Es sind Pferde. Vier, nein fünf Pferde trommeln mit ihren Hufen in vollem Galopp über den Strand. Wie Amazonen treiben die jungen Reiterinnen ihre Tiere an. Ein archaisches Bild. Ein Bild von Freiheit. Wenige Sekunden nur, und sie sind an mir vorbei. Im Weitergehen sehe ich, wie sich Pferde und Reiterinnen immer kleiner werdend auf die Dünen zubewegen und ohne große Mühe in die Höhe reiten. Als dunkle Silhouetten heben sie sich noch einmal kurz vom hellen Himmel ab, um danach hinter der Düne zu verschwinden.

Zeit zur Umkehr. Nach einigen Schritten halte ich an, ziehe meine Schuhe aus, lasse den angesammelten Sand wie Gedanken an die Vergangenheit herausrieseln, binde die Schnürsenkel zusammen, um beide Schuhe so besser über die Schulter hängen zu können. Barfuß wate ich durchs seichte Wasser zurück, manchmal vor einer zu vorwitzigen Welle flüchtend. In der Ferne sehe ich schon die beiden bunten Drachen, die jetzt ruhig und leuchtend im Wind stehen. Ein paar Meter vor mir blitzt etwas im Sonnenlicht auf. Neugierig gehe ich auf die Stelle zu. Es ist eine halb im Sand steckende Flasche. Immer dieser Müll, der sich auch hier überall breitmacht. Irgendwo auf See über Bord geworfen und bei Flut an Land geschwemmt oder achtlos nach einem Lagerfeuer im Sand entsorgt. Die Flasche ist sehr leicht und fest mit einem Korken verschlossen. Eine Flaschenpost? Woher, von wem? Ich verstaue den Fund in meinem kleinen Rucksack, in dem noch ein paar vergessene Äpfel stecken.

Vorbei an den lärmenden Sonnenanbetern stapfe ich mit nackten Füßen durch den losen, heißen Sand zum Strand-Pavillon hoch. Ich habe Durst. Als mein Bier gebracht wird, bitte ich die Bedienung um einen Korkenzieher. Das Mädchen zieht die Augenbrauen etwas hoch, bringt mir aber das gewünschte Werkzeug. Neugierig geworden, schaut sie mir zu, wie ich versuche, die mitgebrachte, schmutzige Flasche zu öffnen. Der Korken sitzt bombenfest. Enttäuscht gebe ich erst mal auf und zahle.

Vor dem Pavillon stehen große Müllcontainer. Ich hebe einen der schweren Deckel an und schlage die Flasche mit Wucht gegen die Deckelkante. Klirrend zerplatzt das spröde Glas und eine Rolle Papier fällt zu Boden. Es sind mehrere, lose gerollte Blätter, die ich vorsichtig auseinanderziehe. Vier leicht vergilbte Seiten, eng beschrieben.

Auf der unteren Seite entdecke ich die Überschrift:
Sand in my shoes

Ein Text aus meinem Buch „Das Flüstern der Steine“.
Mehr Infos dazu: "hier klicken"

© Fotos und Text: G. Lambert, 2012

Autor:

Gottfried (Mac) Lambert aus Goch

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