Eine Stadt - viele Meinungen
Neutralitätsgesetz NRW

Ich habe soeben einen offenen Brief an den Verein "east-west-east" geschrieben, in dem ich Stellung zur Demonstration vom vergangenen Freitag beziehe. Weil ich der Meinung bin, dass diese Diskussion keine "interne" Diskussion ist und meine Kritik sich ausdrücklich nicht an dem Verein "East-West-East" und seinen Anliegen orientiert, sondern an einem breiten Diskurs, habe ich diesen Brief als "offenen Brief" gestaltet, der vielleicht viele Menschen tangiert, die sich wie East-West-East auch für Verständigung und Vielfalt einsetzen.
Hallo liebe Freunde*innen von East-West-East, lieber Paul Gaffron,
ich schreibe Euch ausdrücklich als Privatperson und politischer Mensch, der beruflich mit Menschen arbeitet, die auf die Neutralität und Solidarität unseres Gemeinwesens angewiesen sind.
Am vergangenen Wochenende fand eine Demo auf dem Ebert-Platz in Hagen statt, die wohl federführend von Euch (EAST-WEST-EAST) initiert wurde. Mich freut es ja immer, wenn ich sehe, dass Menschen für ihre Ideale einstehen und auch in der Öffentlichkeit auftreten und sich für Verständigung und Dialog einsetzen, zeigt es doch die Vielfalt der Menschen und untermauert es die viel gepredigte Soildarität eindrucksvoll.
Daher erlaube ich mir, mich in dieser Mail an Euch zu wenden und vielleicht Euren Blick etwas zu erweitern.
Ich will ehrlich sein. Der Anlass Euerer Aktion hat mich iritiert und Eure Aussagen auch ein wenig. Aber das ist ja nun auch Sinn solcher Aktionen insofern bin ich Euch dankbar für diesen Aufschlag.
"Beschäftigte in der Justiz dürfen keine größeren religiösen Symbole zeigen. So sieht es ein Gesetz seit Anfang des Monats vor. Der Hagener Verein East-West-East sieht darin vor allem muslimische Frauen diskriminiert. Es sei offensichtlich, dass es dabei vor allem um Kopftücher ginge. Am Freitag Nachmittag ist die Jugendorganisation dagegen auf die Straße gegangen. Rund 120 Menschen waren dabei." (Zitat Radio Hagen)
Könnt Ihr Euch vorstellen, warum mich das iritiert? Und warum mich gerade der Aspekt iritiert, dass Ihr in dem Kontext staatlicher Neutralität von Diskriminierung und Ausgrenzung sprecht?
Dazu einfach mal ein paar Gedanken dazu von mir zum "Öffentlichen" Dienst und Beamten im Allgemeinen und zur Rolle der Justiz im Besonderen.
Unser demokratischer Rechtsstaat lebt nicht nur von seiner Durchsetzungskraft, sondern vor allem vom Vertrauen, das Menschen in ihn setzen. Das Amt einer Richterin oder eines Richters ist vor allem ein Dienst an der Allgemeinheit.
Diese "Allgemeinheit", das sind in Deutschland religiöse, wie nicht religiöse Menschen, Anhänger einer Weltanschauung, Anhänger ohne eine Weltanschauung. Schauen wir in die jüngere und auch ältere Geschichte stellen wir fest, dass diese offene, liberale und plurale Haltung im Wesentlichen von den verschiedensten Menschen erkämpft werden musste. Lange Zeit galten in europäischen Staaten Machtgefüge, die vor allem den Führer*innen religiöser Gemeinschaften umfangreiche Privilegien und Teilhabe ermöglicht haben - und es damit auch dirketive Gewaltausübung gegenüber der Mehrheitsbevölkerung gab. Die liberalen Werte der Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit wurden im Wesentlichen also nicht MIT sondern gegen die sog. "Obrigkeit" erkämpft.
Mancher ältere Mensch wird sich vielleicht sogar daran erinnern können, wie an Wahlsonntagen Geistliche in Predigten der Gemeinde klar vorzuschreiben versuchten, welche Parteien man zu wählen hatte. Die "Obrigkeit" wird vor allem durch unsere Beamt*innen wie unsere Behörden/Verwaltungen des öffentlichen Diensts repräsentiert. Am deutlichsten sicher in eben unserer Justiz. Justizia ist blind, heißt es. Und damit eben unvoreingenommen den Äußerlichkeiten wie Kleidung, Stand, Herkunft und Meinungen der Menschen.
Menschen, die sich unseren Beamten und Behörden anvertrauen, sind nicht blind. Sie sind - im Gegenteil - sehr sensibel hellhörig für jegliche Form der Voreingenommenheit und auch Manipulation.
Umso mehr, wenn Staatsbedienstete ihre Weltanschauungen, religiösen Bekenntnisse, Zugehörigkeit zu einer Partei oder einer Kirche offen zur Schau stellen.
Viele Menschen, die hier leben, haben - mehr oder weniger ausgeprägt - entsprechende teils traumatisierende Erfahrungen gemacht.
Sei es, dass sie in Diktaturen aufgewachsen sind, in der christlichen Umwelt eines Dorfes im Sauerland oder Bayern, sei es, dass sie als Frauen, als LGBTTI* ausgegrenzt und diskriminiert wurden, als anders gläubige gemobbt wurden. Vielleicht auch - auf viele Geflüchtete, die bei uns Schutz suchen trifft das zu, in ihren religiös geprägten Heimatländern unmittelbar verfolgt, bedroht oder sogar vom Tode bedroht wurden. Kinder und Jugendliche, die in Heimen, Kirchen, Schulen etc. im Namen von Religion von deren Vertretern gedemütigt, missbraucht und erniedrigt wurden. LGBTT*-Personen, denen durch eine Glaubenskongregation gerade unmissverständlich klar gemacht wird, ihre Art zu lieben stünde nicht unter dem Segen Gottes.
Frauen, die abgetrieben haben und ihren Dörfern nicht mehr Willkommen sind, muslimische Frauen, die im Iran wegen eines nicht getragenen Hijabs in Gefängnisse gesperrt wurden..... die Liste ließe sich um ein vielfaches erweitern.
Ich bin mir sicher, ein großer Teil der Mitglieder von EAST-West-EAST kennt solche Erlebnisse. Entweder aus eigener Anschauung oder von Angehörigen und Freunden.
So unterschiedlich diese Erlebnisse sein mögen - all diesen Menschen gemein ist aber, dass unser Staat ihnen ein Versprechen gegeben hat. Nämlich, hier sicher zu sein und so leben zu dürfen, wie sie sind. Und eben das Versprechen, dass eine staatliche Gewalt ihnen unvoreingenommen begegnet.
Ich bin mir auch sicher, dass die meisten Beamt*innen genau dieses Versprechen ernst meinen.
Gerade bei der Frage nach religiösen Symbolen ist ein viel genutztes Argument, es käme darauf an, was die Leute IM Kopf trügen und nicht auf dem Kopf. Das mag im Grundsatz stimmen. Nun sind aber die meisten religiösen Bekenntniskleidungen für die Menschen, die ich eben beschrieben habe, Trigger. Spuren, die sich in ihr kollektives wie persönliches Gedächtnis und ihre Persönlichkeiten eingegraben haben. Trigger, die ihnen Angst machen, die Zorn und Widerstand oder auch Trauer auslösen. Sie sind für die meisten Menschen eben kein Symbol für Freiheit, Demokratie und Rechtstaat.
All diese Symbole stehen für viele für das genaue Gegenteil. Die Menschen, die ihnen etwas angetan haben, trugen oft diese Symbole, diese Kleidung, wie eine Uniform. Als Bekenntnis und Symbol ihrer Macht, die ihnen das Recht zu geben schien, all das zu tun, wessen sie verantwortlich sind.
Mit dem "Neutralitätsgesetz", dass gerade im Landtag von NRW verabschiedet wurde, wird diesen Gedanken Rechnung getragen. Beim Ausüben einer staatlichen Funktion dürfen sie nicht das "Trikot" einer der an der Gesellschaftsbildung beteiligten Mannschaften tragen, denn sie repräsentieren den Staat.
Stellt Euch mal vor, wie ein Schiedrichter auf dem Fußballplatz wirken würde, trüge er statt seiner Dienstkleidung das Trikot der gegnerischen Mannschaft.
Dabei geht es nicht um ein Berufsverbot für bekennende Gläubige, sondern darum, dass das gesellschaftliche Anliegen der Friedensstiftung schwerer wiegt als die sichtbare Selbstverwirklichung von Mitarbeiter*innen und Beamten im öffentlichen Dienst. Wollen Beamte aus persönlichen Gründen nicht auf das Tragen eines religiösen Symbols während ihrer Dienstausübung verzichten, fehlt ihnen aus meiner Sicht die Einsicht in den friedensstiftenden Sinn der verfassungsgemäßen Neutralitätspflicht und die Sensibilität gegenüber denen, die sie vertreten und schützen sollen.
Religiös motivierte Forderungen wie „der Erhalt des christlich-jüdischen Abendlandes“ oder die Einführung eines getrennt-geschlechtlichen Schwimmunterrichts, die Aufhebung des Gesetzes "Ehe für alle", meist eingebracht von Hardlinern - prägen zunehmend den gesellschaftlichen Diskurs. Übrigens sehr zum Verdruss der Gläubigen, die ihre Werte von Rechtspopulisten und fundamentalistischen Religiösen missbraucht sehen, um unsere Gesellschaft zu spalten.
Dass damit Religion aus dem öffentlichen Raum verbannt würde oder muslimische Frauen im Besonderen diskriminiert wären ist Unsinn. Religiöse Symbole sind im Straßenbild allgegenwärtig. Hierzulande hat jede*r die freie Wahl, zu glauben oder nicht zu glauben. Denn genau diese Freiheit garantiert der weltanschaulich neutrale Staat. Als Schiedsrichter im Spiel gesellschaftlicher Kräfte fällt ihm die Aufgabe zu, für alle die gleichen Voraussetzungen zu schaffen.
Auch im allgemeinen politischen Diskurs gilt: wenn Themen wie Hochschulförderung, Impfpflicht, Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch oder Genforschung diskutiert werden, müssen auch die Religionsfreien und nicht nur „Gottes Stellvertreter auf Erden“ angehört werden. Parität statt Privileg muss das Motto in einer weltanschaulich bunten Gesellschaft lauten.
Aus eben diesen vielen genannten Gründen komme ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass Beamte und andere Mitglieder in der Ausübung ihres Dienstes eben auf weltanschauliche/religiöse Symbolik verzichten müssen. Wohlgemerkt, niemand verbietet ihnen das in ihrer Freizeit - außerdienstlich zu tun. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass die Verpflichtung der Gerichtsbarkeit zur Neutralität noch weiter gefasst und im Gesetz um die politische Neutralität ergänzt werden müsste.
Im Klartext: Egal ob Kopftuch, Kippa, Kreuz oder die Anstecknadel einer Partei – im Gerichtssaal hat all das nichts zu suchen. Dort geht es um die Sache und das Bekenntnis zu unserem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat, dem sich alle anderen Weltanschauungen unterzuordnen haben, und nicht um die Anschauungen der urteilenden Richter*innen, Statsanwälte*innen, Pädagog*innen etc.
Ich habe im Grundsatz größtes Vertrauen, dass diese Neutralität als innere Haltung in der Justiz bereits gelebt wird. In Anbetracht der von mir beschriebenen Befangenheit, auch der Menschen, die ich beruflich begleite und um die ich mich kümmere, ist mir wichtig, diese Haltung auch nach außen sichtbar zu machen und damit auch den vielen Menschen, die ich beschrieben habe und die letztlich in der Vielfalt und Gemeinschaft das höchste Souverän dieses Staates sind.
Ich hoffe, mit meiner öffentlichen Stellungnahme, Ihr möget Eure Sichtweise um einen wesentlichen Gesichtspunkt erweitern und darüber mit anderen (Jugend-) Verbänden in den Dialog treten und grüße Euch in solidarischer Freundschaft und Verbundenheit.
Andreas Rau

Autor:

Andreas Rau aus Hagen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

3 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.