Flucht, Folter und der Versuch ein normales Leben zu führen

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Wann lernen sie den Menschen am besten kennen? Ich glaube auf diese Frage würde jeder von uns sagen: "In der Not." Auch ich würde sagen, dass man in der Not den Menschen am ehesten beginnt zu verstehen.

Der Mensch, der gerne Literatur liest, seine Rituale pflegt, sich selbst für gebildet und für zivilisiert erklärt, ja sich sogar für die Menschenrechte einsetzt, Demonstrationen organisiert, Brandbriefe an die Politiker schreibt, diese Menschen kennen wir jedoch nicht wirklich.

Viele Künstler, Schauspieler, Intellektuelle, sehen sich auserkoren, sich für Schwache und für Minderheiten einzusetzen. Es ist nur erstaunlich, wie sie das machen. Die einen singen Lieder, die anderen schreiben Gedichte, wiederum andere schreiben Zeitungsartikel, einige erhalten sogar die Möglichkeit ihre Empörung über die ungerechte Behandlung dieser Minderheiten in einer Talk-Show kund zu tun. Nicht wenige bekommen sogar Preise für ihre Aktivitäten. Wohlgemerkt für das Singen und für das Gedichteschreiben.
"Einmal Syrien und zurück"

Man fragt sich, woher kennen diese Menschen die Probleme, die Nöte und das Leiden dieser Flüchtlinge oder dieser Minderheiten. Die meisten würden sagen: "Wir erfahren dieses Leiden über die Medien." Andere wiederum würden argumentieren: "Ich habe letzte Woche eine Flüchtlingsunterkunft besucht." Wiederum andere reisen mit einem kompletten Fernsehteam nach Syrien und berichten von dort, um uns zu erklären, wie wir, die Ahnungslosen, die Komplexität dieser Auseinandersetzung zu verstehen haben.

Selbstverständlich folgt nach dieser Reportage eine Einladung zu verschiedenen Talk-Shows. Selbstverständlich erscheint danach ein Buch, womöglich mit dem Titel: "Einmal Syrien und zurück". Dann haben wir die schlauen Intellektuellen. Diese Leute wollen uns erklären, wie der Mensch funktioniert, warum er zu einer Bestie wird.

Manch ein Philosoph in Deutschland sieht sich auserkoren uns Deutsche vor einer bedrohlichen Bewegung, die auf das Abendland zukommt, und insbesondere das philosophische Quartett in seiner Existenz bedroht, philosophisch zu warnen. Andere wiederum sehen das gesamte Abendland bedroht. Wie gefährlich das doch ist, das Menschen vor Hunger und Kriegen fliehen und ausgerechnet Gebiete aufsuchen, wo aus deren Sicht Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit herrscht.

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Manch einer der selbsternannten Intellektuellen stellt sogar die kluge Frage: "Warum fliehen die Syrer aus Syrien?" Andere fragen sich: "Wird Deutschland jetzt eine islamische Republik?" Andere wiederum mutieren zu Galliern und bauen eine komplette Mauer um ihr Land herum. Dabei übersehen sie, dass sie sich womöglich selber damit den Weg nach Außen versperrt haben.

Einige Staatsführer erklären, sie wären gerne bereit Flüchtlinge aufzunehmen. Aber bitte keine Muslime! Wir haben also auf der einen Seite Menschen, die sich in warmen Wohnzimmern, nachdem sie sich satt gegessen haben, darüber empören, welch eine große Ungerechtigkeit den Flüchtlingen widerfährt. Gleichzeitig beschweren sie sich darüber, dass die Tomaten so teuer sind. Das erinnert mich an die wunderschönen Bilder von Otto Dix, einem Meister der "Neuen Sachlichkeit".

Andere wiederum werden paranoid. Es kommen ja schließlich über eine Million Syrer und Iraker auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung nach Westeuropa. Also, eine Million Flüchtlinge, vielleicht auch zwei, bei einer Einwohnerzahl von etwas mehr als 600 Millionen in Europa.
Ich habe Menschen gefunden!

Lassen Sie mich Ihnen doch einmal etwas aus meinem Alltag erzählen. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Flüchtlinge etwas genauer anzuschauen. Was ich gefunden habe hat mich in Erstaunen versetzt. Ich verrate es Ihnen. Ich habe Menschen gefunden!

Einige von ihnen sind mehrfach körperlich und sexuell misshandelt worden, andere sind massiv gefoltert worden. Die Spuren finden sich auf den Körpern dieser Menschen. Einige haben ihre Augen verloren. Andere haben nur noch ein Bein. Einer Frau sind auf dem Weg vom Irak nach Deutschland 4 von 5 Kindern verstorben. Drei wurden in Syrien erschossen, ein Kind ertrank auf dem Seeweg von der Türkei nach Griechenland. Eine Frau mittleren Alters, die trotz des Schmerzes, des Leides dankbar ist, dass man ihr hilft. Sie ist dankbar, dass Gott ihr noch ein Kind zurückgelassen hat.

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Während der Wartezeit in meiner Sprechstunde passte sie auf das Baby einer anderen Patientin auf, so als wäre es ihr eigenes Kind. Als sie dran war und ich sie begrüßte, fing sie an zu weinen. Ich dachte, da mir die Vorgeschichte bekannt war, sie würde wegen ihrer Kinder weinen.

Ich fragte sie nicht, sie sagte von sich aus: "Sie denken bestimmt, ich weine wegen der Kinder?"
"Ja," antwortete ich, "das denke ich."
"Nein mein Sohn, dass ist nicht so. Die Kinder sind doch bei Gott und da herrscht Frieden. Ich weine, weil ich mich gefreut habe, sie wiederzusehen. Ich habe zumindest für einen Moment das Gefühl, dass ich wieder Mensch bin."

Ein 45- jähriger Mann kommt aus dem Sudan. Er ist stets freundlich, lächelt und ist ungemein höflich. Er ist sehr gebildet. Er kam zu mir in die Sprechstunde, weil er Hilfe sucht, um seine Schlafstörungen zu beseitigen. Ich habe ihn gefragt, ob er andere Erkrankungen hat, ob etwas passiert, ahnend, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein muss, antwortete er: "Wir alle leiden auf unsere Art und Weise."
"Also soll ich Sie nur wegen Ihrer Schlafstörungen behandeln?"
"Ja. Alles andere behandelt sich von alleine."
"Also gut, dann machen wir es so."

Er stand auf und wir umarmten uns zum Abschied, so wie man das im Sudan macht. Dabei berührte ich seinen Rücken und er schrie. Ich fragte ihn, ob ich ihm weh getan hätte, denn die Berührung war sehr sanft. "Nein", sagte er, "nicht Sie."
"Wer dann?"
"Die, die sich Menschen nennen." Ich bat ihn daraufhin mir seinen Rücken zu zeigen. Er tat es ungern, aber er tat es. Die Spuren der Stockhiebe waren unglaublich tief.

Eine 65-jährige Frau gelang die Flucht aus dem Irak. Ihre Familie wurde im Krieg komplett getötet. Sie überlebte als Einzige. Sie schlug sich über die Türkei nach Europa durch. Ich fragte sie, wie sie das in dem Alter und in dem Gesundheitszustand geschafft hat. Sie antwortete: "Der Gedanke, woanders Frieden und Menschen zu finden, hat mir ungeahnte Kräfte verliehen. Es hat mir nichts ausgemacht die Strapazen auf mich zu nehmen. Aber wissen Sie was. Ich muss den Menschen weiterhin suchen."

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Während des Gesprächs klingelt das Telefon und auf der anderen Seite meldet sich ein Sachbearbeiter der Ausländerbehörde: "Sind Sie dieser Doktor?"
"Ja, ich bin dieser Doktor!"
"Bei Ihnen befindet sich ein Sudanese in Behandlung, der, um hier in Deutschland bleiben zu können, sich eine Geschichte ausgedacht hat, die von vornherein total unglaubwürdig ist. Im Sudan wird nicht gefoltert!"
Ich daraufhin: "Sie haben völlig Recht! Im Sudan wird nicht gefoltert. Dieser Mann hat sich selbst, in der Manier des Opus Die, selbst kasteit. Aber ich muss Sie enttäuschen, Herr Sachbearbeiter. Er will gar keinen Aufenthalt in Deutschland erschleichen. Er ist auf der Suche nach dem Menschen! Sind Sie dieser Mensch, Herr Sachbearbeiter?"
Die Kraft weiterzumachen

Ali ist 25 Jahre alt. Er fühlt sich verfolgt und beobachtet. Er hört Stimmen, die ihm befehlen sich selbst zu erhängen. Ali kommt aus Syrien und wurde dort gezwungen als Soldat auf andere zu schießen. Ali war Student der Physik. Seine Papiere lagen mir vor. Er war ein ausgezeichneter Student, mehrsprachig und hat mehrere Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges im Ausland gelebt.

Ali ist zusammen mit seinem Bruder über die Türkei und die Balkanroute nach Deutschland geflohen. Auf der Balkanroute hat er seinen Bruder verloren. Er weiß bis heute nicht, wo sein Bruder geblieben ist. Nach der Ankunft in Deutschland begann er sich in seiner Wohneinrichtung in seinem Flüchtlingsheim zurückzuziehen. Er weigerte sich zu essen und zu trinken und er hat sich mit einem Messer eine schwere Verletzung am Bauch zugeführt.

Er wurde notfallmäßig operiert und danach zur Weiterbehandlung zu mir verlegt. Es hat 5 Monate gedauert. In dieser Zeit wurde er medikamentös therapiert und über die Vene ernährt. Die medikamentöse Therapie musste im Verlauf immer weiter optimiert werden.

Heute hat sich Ali mit mir ganz normal unterhalten. Er hat mir seine Leidensgeschichte erzählt. Der Gedanke, dass er seinen Bruder nicht mehr wiedersehen wird, schmerzt ihn sehr. Er hat keinen Kontakt mehr nach Syrien. Er geht davon aus, dass seine ganze Familie getötet worden ist. Alle Hoffnung ruht nun auf ihm selbst. Er muss kämpfen. Er will sein Studium beenden und er hat mir heute den Auftrag erteilt, ihm von der Bibliothek Bücher zu besorgen. Ich habe diesen Auftrag mit Freude angenommen.

Ich habe ihn gefragt, woher er diese Kraft nimmt. Er schaute mich an, lächelte und sagte: "Aber Herr Doktor, Sie sehen doch genauso aus wie ich. Vielleicht waren Ihre Eltern ja auch Flüchtlinge. Vielleicht haben Sie auch jemanden verloren. Weiß ich das? Das Einzige, was ich weiß, Herr Doktor, ist, dass es Menschen gibt."

Ich lächelte und er hob die Hand und sagte: "Moment!" Natürlich sprach er in arabischer Sprache. Ich antwortete: "Ich warte."

Er lief in sein Zimmer und kam mit einer Liste zurück. Auf dieser Liste befanden sich über 20 Buchtitel, die er gerne haben möchte. Darunter das Buch Tausend und eine Nacht. "Aber in deutscher Sprache." Ich fragte Ali: "Kannst du diese Texte überhaupt verstehen?" Er lächelte, guckte mich an und sagte: "Ein wenig."

Autor:

Mimoun Azizi aus Hagen

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