Auslandsfreiwillige machen politische Wanderung über Friedhof Lauheide
Auseinandersetzung mit Zwangsarbeit, Sklaverei und eigener Ohnmacht

Um das Thema Zwangsarbeit ging es am russischen Gräberfeld auf dem Waldfriedhof. Fotos: Bischöfliche Pressestelle/Ann-Christin Ladermann
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  • Um das Thema Zwangsarbeit ging es am russischen Gräberfeld auf dem Waldfriedhof. Fotos: Bischöfliche Pressestelle/Ann-Christin Ladermann
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 Münster/Haltern. Mit dem Flieger wollten sie eigentlich in wenigen Wochen hinaus in die weite Welt – nach Tansania, Ghana, Uganda. Doch für die 25 jungen Erwachsenen, die über das Bistum Münster ab Sommer einen Freiwilligendienst in Afrika und Lateinamerika beginnen sollten, ist ungewiss, ob es mit dem Auslandsaufenthalt klappt. Zu kritisch ist die Situation rund um das Corona-Virus in ihren Einsatzländern. Schon die Vorbereitung in den vergangenen Monaten lief anders ab als bei ihren Vorgängern. Ein persönliches Kennenlernen, intensive Gruppenerfahrungen, all das war kaum möglich.

Die Organisatoren vom Referat „Freiwilligendienst im Ausland“ der Fachstelle Weltkirche im Bistum Münster haben sich eine Alternative einfallen lassen: Am 30. Juni luden sie die künftigen Freiwilligen aus Münster, Nottuln, Wettringen, Greven, Ahaus, Haltern am See, Neuenkirchen und Ascheberg zu einer „politischen und persönlichen Kreuzwegwanderung“ an. Was sperrig klingt, hatte einen idyllischen Rahmen: Vom Friedhof Lauheide zwischen Münster und Telgte aus wanderte die Gruppe 13 Kilometer zunächst über das Friedhofsgelände, dann durch Wald und über Wiesen entlang der Ems. An verschiedenen Stationen bekamen die Teilnehmenden, die gerade das Abitur in der Tasche haben, die Möglichkeit, sich mit sich selbst und ihrer Situation, aber auch mit aktuellen politischen Themen auseinanderzusetzen. Als Gast wanderte Pfarrer Peter Kossen einige Kilometer mit und sprach zum Thema Ohnmacht und Ausbeutung in der Fleischindustrie. Der Pfarrer der Lengericher Pfarrei Seliger Niels Stensen prangert seit 2012 die Arbeits- und Lebensbedingungen vor allem der osteuropäischen Leiharbeiter in den Schlachtbetrieben an und bezeichnet diese als „moderne Sklaverei“. Durch den Corona-Ausbruch im Mai bei Westfleisch in Coesfeld und jetzt bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück bekommt das Thema auch international mediale Aufmerksamkeit.

Osteuropäischen Leiharbeiter in den Schlachtbetrieben

„Diese Menschen stehen immer unter Druck und das erste Wort, das sie in Deutschland lernen, heißt ‚schneller‘“, weiß Kossen, der in den vergangenen Wochen viele Medienanfragen zu dem Thema erhalten hat. Die Leiharbeiter kämen zunächst freiwillig nach Deutschland, „weil ihnen viel versprochen wird“, berichtete er, „aber sie finden sich schnell in einer Situation wieder, aus der sie nicht mehr herauskommen“. Der Umgang mit den osteuropäischen Leiharbeitern habe auch etwas mit Rassismus zu tun. „Für die meisten von uns haben diese Menschen keinen Vornamen, sie werden nur als ‚der Pole‘ oder ‚der Rumäne‘ bezeichnet“, kritisierte er. Hinzu komme der Gedanke, dass Menschen, die aus einem armen Land stammen, automatisch mit weniger zufrieden sein müssen. „Aber diese Menschen haben das Recht darauf, als Menschen behandelt zu werden und nicht nur als Arbeitskräfte“, machte Kossen den Freiwilligen deutlich.

Russische Gräberfeld auf dem Waldfriedhof

Um das Thema Zwangsarbeit ging es auch am russischen Gräberfeld auf dem Waldfriedhof. 160 Menschen liegen dort begraben, darunter männliche Kriegsgefangene, aber auch Männer, Frauen und Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter in und um Münster gearbeitet haben. „Diese Menschen werden in unserer Erinnerungskultur oftmals vergessen“, erklärte die ehemalige Freiwillige Greta Lüking und wies auf die namenlose, anonyme Art der Bestattung der Zwangsarbeiter hin. Mit einem Brief eines 19-jährigen Arbeiters an seine Mutter hob sie bewusst ein Einzelschicksal hervor: „Bewahrt euch die Fähigkeit, euch von persönlichen Schicksalen, auch von fremden Menschen, berühren zu lassen“, ermutigte sie die künftigen Freiwilligen.
Immer wieder ging es auch um die eigene Ohnmacht, der die jungen Frauen und Männer durch die ungewisse Situation derzeit ausgesetzt sind. Angeregt durch Impulse, gruppendynamische Aktionen und eine Traumreise konnten sich die Freiwilligen darüber klar werden, was sie beschäftigt. Für Victoria Ellerkamp, die ein Jahr in Südafrika geplant hat, sind es teilweise die Fragen von Freunden und Bekannten, wie es weitergeht: „Bei der Abiturfeier zum Beispiel konnten die meisten genau sagen, wann es für sie mit was auch immer losgeht. Ich hatte keine Antwort darauf“, sagte die 18-jährige Ahauserin. Gesche Redlich hat die Planlosigkeit ein Stück weit akzeptiert: „Ich habe mich schon etwas daran gewöhnt, alles auf mich zukommen zu lassen“, sagte die Münsteranerin, für die es nach Uganda gehen soll. „Irgendwann verdrängt man die Gedanken daran aber auch.“ Bei der Wanderung habe darum die bewusste Auseinandersetzung mit sich selbst und der Situation gutgetan.

Die Fachstelle Weltkirche bietet auch künftig gemeinsam mit ehemaligen Auslandsfreiwilligen „thematische Kreuzwegwanderungen“ für Pfarreien, Firmgruppen, Verbände und Gremien an. Bei Interesse können sich Interessierte telefonisch unter 0251 4956209 melden.

Autor:

Michael Menzebach aus Haltern

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