Update 1
Sorge um sein Restgeld bringt Asylbewerber vor Gericht

Archivbild : Sitzordnung vor Corona

Die drei Richter des Hattinger Jugendschöffengerichtes hatten heute über den Anklagevorwurf eines Räuberischen Diebstahls zu entscheiden. Der aus Somalia stammende Angeklagte, der in Sprockhövel wohnt, wurde im Gericht von Rechtsanwalt Sentner als Pflichtverteidiger und einem Dolmetscher unterstützt. Am Ende der Hauptverhandlung wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt.

Die Version des Angeklagten
Der zum Tatzeitpunkt 19-Jährige stammt aus Somalia und wohnt seit 2019 in Sprockhövel. Er ist der deutschen Sprache noch nicht mächtig. Anfang Oktober nahm er sein „letztes Geld“, einen 20-Euro-Schein und wollte mit dem Bus zum Einkaufen nach Haßlinghausen fahren.

Beim Betreten des Busses wollte er ein Kurzstreckenticket für 1,70 € lösen, die Busfahrerin konnte ihm allerdings seinen 20-Euro-Schein weder in Münzen noch in Banknoten wechseln. Er hatte dann die Wahlmöglichkeit zwischen einem sofortigen Verlassen des Busses und der Akzeptanz eines VER-Gutscheines über den Restbetrag von 18,30 Euro.

Er nahm den VER-Gutschein über 18,30 Euro, will das Gutschein-System überhaupt nicht verstanden haben, blieb während der Fahrt im Bus hinter der Busfahrerin stehen und forderte immer wieder, sie möge ihm doch das Restgeld aushändigen.

Mittellos in Haßlinghausen
Den VER-Gutschein hätte er übrigens an seinem Endziel am Busbahnhof in Haßlinghausen nicht gegen Bargeld einlösen können. Er hätte dafür nach Hattingen, Bochum, Schwelm oder Ennepetal fahren müssen. Nun hatte der Angeklagte aber kein Geld mehr und konnte weder einkaufen noch ein Ticket kaufen um zu einer Gutschein-Einlösestelle zu fahren.

Am Busbahnhof in Haßlinghausen machte die Busfahrerin eine Pause und holte sich in einem Kiosk einen Kaffee. „Ich stand vor dem Kiosk und dachte, sie wechselt jetzt meinen Schein und gibt mir mein Restgeld zurück“, ließ der Asylbewerber über seinen Dolmetscher übersetzen.

Als dieses nicht passierte und der Angeklagte den Eindruck bekam, dass die Umstehenden ihn auslachten, ging er hinter der Busfahrerin her und nahm die von ihr abgestellte Wechselgeldtasche mit. Er will nur seinen 20-Euro-Schein entnommen und die Tasche wieder abgestellt haben, räumte erst später ein, dass es dabei ein Gerangel gegeben haben könnte. Im Übrigen könne sich das Gericht ja die Videoaufzeichnungen ansehen, denn am Kiosk sei seiner Meinung nach eine Videokamera angebracht.

Erst die hinzugerufene Polizei habe ihn aufgeklärt und er habe dann erst die Bedeutung des VER-Gutscheines verstanden.

Die Version der Busfahrerin
Der Angeklagte stieg in meinen Bus und hatte kein passendes Kleingeld. Ich hatte meine Tour  gerade erst begonnen und konnte seinen 20-Euro-Schein nicht wechseln. Meiner Aufforderung, einen der Busgäste zu fragen, ob ihm jemand seinen 20-Euro-Schein wechseln könnte, kam er nicht nach.

Also gab ich ihm das Kurzstreckenticket und über den Restbetrag einen VER-Gutschein. Während der Fahrt blieb er direkt hinter mir stehen und forderte immer wieder die Rückgabe seines Restgeldes. Ich verständigte diesbezüglich über Funk meine Zentrale, weil mir das unangenehm war.

Am Busbahnhof in Haßlinghausen kam er hinter mir her, als ich mir einen Kaffee am Kiosk holte. Als ich meine Geldtasche mit Münzen und Banknoten im Bereich eines Kollegen abstellte um kurz die Toilette aufzusuchen, nahm er die Mappe mit den Banknoten und lief damit weg. Ich lief sofort hinterher und nahm sie ihm wieder ab. Später stellte sich heraus, dass mir 70 Euro fehlten. Ich verständigte dann die Polizei.

Aussage der Zeugen
Das Gericht brauchte mehrere Befragungen von Zeugen um zu klären, wie die Ermittlung etwaiger Abrechnungsdifferenzen bei den Busfahrern, ihre Ausstattung mit Münzen und Banknoten und die Ablieferung von eingenommenen Geldern an das Verkehrsunternehmen erfolgt. Erstaunlich blieb, dass die Busfahrerin, obwohl diese gehalten ist, mindestens 50 Euro an Münzen mitzuführen, schon kurz nach Beginn ihrer Fahrtätigkeit nicht mehr in der Lage gewesen sein will, einen 20-Euro Schein wechseln zu können. Außerdem, so ihre Einlassung vor Gericht, hatte sie in einem separaten Fach weitere Banknotenscheine bei sich.

Beweiswürdigung des Schöffengerichtes
Die Richter hatten bei der Einlassung des Angeklagten und der Zeugenvernehmung schon Widersprüche und Ungereimtheiten zwischen den einzelnen Aussagen zu bewerten. Fazit am Ende war eine „Gewalt im unteren Bereich“ und eine unklare Beweissituation. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Angeklagte mehr als die von ihm eingeräumte Wegnahme des 20-Euro-Geldscheines vorgenommen hatte, zumal auch ein weiterer Busfahrer gesehen hatte, dass der Angeklagte nach dem Übergriff nur den 20-Euro-Schein in der Hand hielt.

Nach Auskunft der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe ist der junge Angeklagte einer der Unauffälligsten in der Gemeinschaftsunterkunft. Sein Sprachverständnis sei noch mangelhaft und er lerne zur Zeit deutsch. „Wenn sie anfangen zu erzählen, dann ist das allerdings keine gute Idee, wenn sie das Gericht anlügen bzw. nicht sofort die vollständige Wahrheit sagen“, sagte der Vorsitzende des Jugendschöffengerichtes, Amtsgerichtsdirektor Amann zum bisher nicht vorbestraften Angeklagten.

Verfahren eingestellt
Mit Zustimmung aller Gerichtsparteien wurde dann das Verfahren gegen den 19-Jährigen eingestellt. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.

Autor:

Hans-Georg Höffken aus Hattingen

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