Die Deportation begann im Dezember

(von Karin Hockamp) Vor 70 Jahren, am 10. Dezember 1941, begann die Deportationen jüdischer Menschen aus dem Rheinland und Westfalen in das Getto Riga. Auch eine gebürtige Sprockhövelerin, Herta Sander geb. Röttgen, befand sich im ersten Transport ab Düsseldorf, der für fast tausend Menschen die Fahrt in den Tod bedeutete.

Herta Sander, ihr Ehemann Max und drei ihrer fünf Kinder wurden in den Lagern Stutthoff, Sobibor und Bergen-Belsen ermordet. Das Stadtarchiv hat aus Anlass dieses Jahrestages das Schicksal von Herta Sander recherchiert.
Herta Röttgen wurde 1897 als drittes Kind von Nathan und Clara Röttgen in Sprockhövel geboren. Die Familie Röttgen war die einzige jüdische Familie in der Gemeinde Niedersprockhövel.
Hertas Vater Nathan war Viehhändler; ihre Mutter Clara versorgte zu Hause die Familie, in der fünf Kinder groß wurden und war vermutlich auch in das Geschäft eingebunden. Das Haus der Familie Röttgen stand an der Kreuzung Hauptstraße/Bahnhofstraße am heutigen Kreisverkehr in Niedersprockhövel.
Ab Ostern 1903 besuchte Herta Röttgen die Volksschule Nord. Als 1910 die Rektorat­schule Sprockhövel auch Mädchen aufnahm, war sie eine der ersten Schülerinnen. Auch Hertas jüngere Geschwister besuchten diese Schule. Mit Französischkenntnissen, guten Noten und einem „lobenswerten“ Verhalten verließ Herta die Schule nach einem Jahr wieder, als ihre Schulpflicht endete.
Im Alter von 23 Jahren heiratete sie einen Berufskollegen ihres Vaters, den ebenfalls jüdischen Viehhändler Max Sander aus Haldern im Kreis Rees. Herta wird auch ohne Berufsausbildung in ihrem Elternhaus das gelernt haben, was eine Geschäftsfrau im Viehhandel und eine Hausfrau können musste. Auch die Familie Sander war in ihrer Heimatgemeinde Haldern seit Generationen verwurzelt.
1923 siedelten sich Herta und Max Sander im nahe gelegenen Isselburg (heute Kreis Borken) an und gehörten damit zur Synagogengemeinde Anholt an der niederländischen Grenze. Eine Tochter und drei Söhne wurden ihnen hier geboren.
Wie lange der Viehhandel Max Sanders hier bestand, ist nicht mehr zu ermitteln; vermutlich wurde auch er ein Opfer der Wirtschaftskrise 1929. Ende Januar 1933, zwei Tage bevor Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, zog die Familie Sander nach Rees um, wo im April ihr jüngster Sohn Walter geboren wurde. Max Sander hatte hier bei dem großen jüdischen Futtermittelproduzenten B.S. Wolf Arbeit gefunden. In Rees, die auch eine alte Synagogengemeinde beherbergte, lebten zu diesem Zeitpunkt 55 jüdische Menschen.
Die zunehmenden Repressionen auf die jüdischen Menschen zwangen viele jüdische Geschäftsleute zur Aufgabe und zum Verkauf ihrer Betriebe weit unter Wert. Auch Max Sanders Arbeitgeber Paul Wolff gab 1936 auf und emigrierte nach Brasilien. Max Sander wurde arbeitslos.
1937 beendete der älteste Sohn Helmut die Schule. Als Jude bekam er keine Lehrstelle und war gezwungen, nach Köln in ein jüdisches Lehrlingsheim zu ziehen. Ganz schnell musste er erwachsen werden. In Köln wurden die jungen Männer im Flugplatz- und Autobahnbau beschäftigt.
Durch den Novemberpogrom bekamen Sanders einen Vorgeschmack auf das Kommende. Ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, war nun für Herta Sander das Wichtigste.
Wie schwer es ihr gefallen sein musste, ihre Kinder wegzugeben, wie groß ihr Leidensdruck war, ist nur zu erahnen. Es sollte ein Abschied für immer sein. Liesel, Kurt, Herbert und Walter, zwischen 1925 und 1933 geboren, wurden Anfang Dezember 1938 über die grüne Grenze nach Holland geschleust.
Am 10. Dezember 1941 setzte nach jahrelanger Diskriminierung und Entrechtung die letzte und schlimmste Etappe des Leidensweges von Herta, Max und Helmut Sander ein. Sie erhielten den Befehl, sich an diesem Tag gemeinsam mit Max’ Schwester Jettchen auf dem Güterbahnhof Düsseldorf-Derendorf am Schlachthof einzufinden. Dort, wo am Vortag noch Schlachtvieh gestanden hatte, mussten die Menschen die Nacht vor Fahrtbeginn auf Steinböden mit etwas Stroh verbringen. Man hatte ihnen mitgeteilt, sie würden in das „Ostland“ „umgesiedelt“. Die „Fahrtkosten“ in Höhe von 50 Reichsmark mussten sie selbst bezahlen. Ihr Gepäck sollten sie nie wiedersehen.
In den Berichten von Tätern und Opfern werden die Qualen dieser viertägigen Zugfahrt nach Riga deutlich: Über 1.000 jüdische Menschen vom Säugling bis zu 65jährigen mussten sich in teils überfüllte Waggons ohne funktionierende Heizung pressen, es gab nichts zu essen und kaum etwas zu trinken.
Max Schwester Jettchen (44), der es nach der furchtbaren Zugfahrt schlecht ging, wurde unmittelbar nach ihrer Ankunft in Riga ermordet. Nach 14 Tagen wurde Helmut in das Lager Salaspils zu härtester Zwangsarbeit gebracht. Von Herta und Max Sander sind nun keine Lebenszeichen mehr überliefert.
Im Herbst 1943 wurde das Getto Riga angesichts der herannahenden Front aufgelöst. Nach Quellenlage kam sie im Lager Stutthof ums Leben. „Verschollen“ ist der Begriff, der im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz (Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, 1986) verwendet wird. Am 15. Oktober 1947 wurden sie und ihr Mann vom Amtsgericht Rees für tot erklärt. Der 63-jährige Max Sander war von seinen Peinigern noch bis nach Bergen-Belsen in Niedersachsen
getrieben worden, wo er eine Woche vor der Befreiung durch die Engländer im März 1945 zu Tode kam.
Helmut Sander, 21 Jahre alt, auf 36 Kilo abgemagert und an Flecktyphus erkrankt wurde von den Russen befreit. 2003 ließen die Kunst- und Kulturinitiative und die Stadt Sprockhövel am Sparkassenvorplatz ein Mahnmal für die jüdische Familie Röttgen errichten.
In Rees, dort wo die Synagoge gestanden und die Familie Sander gewohnt hatte, wurden 2008 fünf „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig in den Bürgersteig eingelassen mit den Namen und Lebensdaten von Herta, Max, Herbert, Kurt und Walter Sander.
Die ganze Geschichte der jüdischen Familie Röttgen aus Sprockhövel ist festgehalten in der Broschüre „Die Toten werden Mahnung sein“, erhältlich in den Bürgerbüros der Stadt Sprockhövel.

Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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