Elternreihe: Geschwister streiten sich - und das ist gut so!

Viele Eltern reiben sich auf, um Auseinandersetzungen zwischen Geschwistern zu schlichten, mobile Einsatztruppe und Richter zugleich zu spielen, zu trösten und zu beruhigen. Natürlich ist es schwierig, jeder Seite gerecht zu werden, und oft genug gerät man dann selbst zwischen die Fronten. Doch ist es wirklich so schlimm, wenn Geschwister sich streiten?

Mit diesem Thema beschäftigte sich der „Elterntreff“ im Januar 2018 zum Start in das neue Jahr. Kathrin Seibel-Schreck, Dipl.-Psychologin und Systemische Familientherapeutin, Mitarbeiterin der Erziehungsberatungsstelle der Stadt Hattingen, hat viel Erfahrung auf dem Gebiet – aus der beruflichen Perspektive und auch selbst als Geschwisterkind.
„Streit zwischen den Geschwistern ist notwendig und als Erwachsener sollte man nicht oder nicht zu früh eingreifen“, erklärt die Fachfrau und zeigt das Verhalten der Beteiligten an einem Beispiel auf: Lena und Lisa sind Geschwister. Lena ist sieben Jahre alt, Lisa fünf. Zu Weihnachten hat Lena einen Baukasten bekommen, mit dem sie gerne spielt. Ausdrücklich ist das ihr Geschenk, denn sie ist die „Große“. Lisa möchte auch gerne mitspielen, doch Lena möchte das nicht. Lisa nimmt sich ein paar Bausteine weg, Lena möchte sie zurück haben und schon ist der Streit in vollem Gange. Die Mutter versucht zu schlichten und bringt „Argumente“ wie „Du bist doch die Große. Gib ihr doch auch etwas ab“, befindet sich aber in einem Loyalitätskonflikt den Kindern gegenüber. Was soll sie tun?

Streit ist menschlich und wichtig

Kathrin Seibel-Schreck analysiert am Beispiel der Figuren, um was es geht: „Nehmen wir zuerst Lena. Sie erlebt mit ihrem neuen Spielzeug einen positiven Lustgewinn. Es ist neu und es macht Spaß, damit zu spielen. Sie kontrolliert das Spiel, hat aber wegen Lisa auch Angst vor Kontrollverlust, weil diese ihr etwas kaputt machen könnte. Lena fühlt sich „groß“, denn das Spielzeug ist für ältere Kinder gedacht. Lena hat aber auch Angst, dass die Mutter ihr als „Große“ die Schuld an Lisas Gebrüll gibt. Lisa wiederum erlebt einen positiven Lustgewinn zunächst durch die Wegnahme des Spielzeugs. Sie ist enttäuscht und fühlt sich nicht wertgeschätzt, weil die große Schwester sie nicht mitspielen lassen möchte. Sie hat aber auch die Sorge, Ärger zu bekommen. Die Mutter schließlich möchte den Streit im Sinne beider Kinder lösen und befindet sich in einem Loyalitätskonflikt. Die Geschwister versuchen beide, ihre jeweiligen psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Positive Erlebnisse (Lustgewinn), Kontrolle und Orientierung (die Welt verstehen), Anerkennung und Bindung sind die großen vier Grundbedürfnisse eines jeden Menschen und individuell besetzt. Geschwister üben im Streit die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Sie lernen, mit Enttäuschung und Frust umzugehen. Das müssen sie auch, denn sie sind wichtig für eine gesunde psychische Entwicklung in ihrem Leben.“
Und natürlich ist ein Streit zutiefst menschlich, denn: „Wir haben alle eine Portion Egoismus in uns und möchten unsere Bedürfnisse befriedigen. Das wollen auch die Kinder. Und wenn die Bedürfnisse der Geschwister unterschiedlich sind, nun, dann kann es zum Streit kommen. Die Erwachsenen sollten dann Ruhe bewahren und nicht sofort eingreifen, mindestens nicht innerhalb bestimmter Grenzen. Der Streit an sich ist nichts Schlimmes oder gar problematisch. Anders sieht das natürlich aus, wenn Grenzen überschritten werden. Dazu gehören natürlich körperliche Auseinandersetzungen, aber auch verbale Beleidigungen. „Eltern sind auch hier Vorbild. Kinder gucken genau hin, wie sich Eltern streiten und wenn man selbst entscheidend austeilt, nun, dann werden es auch die Kinder tun. Eltern sollten ihre Kinder gut beobachten und sich fragen, was genau hinter dem Streit stecken kann. Vielleicht möchte das älteste Kind nicht immer die Große sein, sondern wünscht sich auch einmal die andere Rolle übernehmen zu können. Hier können Rollentausch und Rituale helfen. Dann darf eben auch einmal das ältere Kind kuscheln und feste Rituale helfen, damit die Situation nicht eskaliert. Sinnvoll ist es auch, sein Verständnis deutlich zu bekunden: Ich verstehe, dass du nicht immer die Vernünftige sein möchtest und nicht immer warten willst, bis das Baby versorgt ist. Oft hilft einfach das Bekunden des Verständnisses, damit es dem Kind besser geht. Da geht es manchmal nicht so sehr um den direkten Anlass des Streites.“

Streit braucht Grenzen

Viele Theorien greifen auch auf das „Entthronen“ durch das jüngere Geschwisterkind zurück. Auf einmal ist ein Baby da und das älteres Geschwisterkind empfindet sich als zurückgesetzt. Das muss allerdings nicht so sein, denn als älteres Kind kann man auch die Erfahrung machen, jetzt zusammen mit Mama und/oder Papa zu den Großen zu gehören oder aber gemeinsam mit dem jüngeren Geschwisterkind ein „Wir-Gefühl“ zu entwickeln – Wir gegen die Großen. Sie sind durchaus bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen.
„Grundsätzlich sollte man den Streit zwischen Geschwistern, aber auch allgemein, nicht negativ werten. Er ist zutiefst menschlich und völlig normal. Wir sollten uns eher um eine Streitkultur bemühen, die ergebnisoffen Kompromisse ermöglicht. Sich respektvoll begegnen, das muss eingeübt werden und ist für ein Miteinander in der Gesellschaft unabdingbar.“

Kontakt: Kathrin Seibel-Schreck, Erziehungsberatungsstelle der Stadt Hattingen, Bahnhofstraße 51, 45525 Hattingen. Telefon 02324/24306 (Sekretariat); Email erziehungsberatung@hattingen.de; Im Netz: www.hattingen.de/erziehungsberatung

Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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