Wintergedanken

Diese Zeilen schrieb ich im Winter 1996 - vor 20 Jahren also - anwendbar sind sie allerdings nach wie vor ... auch im Winter 2016 :-)

Der Winter meiner Kindheit.
Ich bin zehn Jahre alt. Neuschnee bildet eine riesige weiße Tafel im Garten. Ich kann darauf etwas zeichnen oder mit einem Stock einfach schreiben Rosa + X = Liebe und alles nach ausgiebigem Liebäugeln wieder wegwischen. Ich kann auch ein verworrenes Labyrinth aus meiner eigenen Spur bilden und am Ende den Weg zum Anfangspunkt zurückfinden – nicht immer ist das so einfach wie es zuerst scheint. Es gibt noch viele andere spannende Sachen, die ich im Winter machen kann: Zum Beispiel mit dem Schlitten vom hohen Schneehügel hinunterfliegen, so dass mir der Wind um die Ohren pfeift. Oder im Berg aus festgesetztem Schnee eine Höhle graben, um sich darin vor aller Welt zu verstecken.
Der Winter meiner Kinderjahre war voll Freude und Vergnügen, jedenfalls ist er so in meiner Erinnerung geblieben. Den Winter der späteren Jahre verbinde ich schon mit anderen Gefühlen. Das Teenager-Alter ist wohl das schwierigste im Menschenleben. Mit vierzehn ist es nicht leicht, mit quälenden Gedanken, mit der Sehnsucht nach irgendetwas zurechtzukommen, wovon man gar nicht weiß, was es ist. Hinzu kam noch die schwere, langwierige Krankheit meiner Mutter. Deshalb waren die Winter meiner Jugend mehr ein Kampf mit mir selbst, mit meinen Problemen, mit der inneren Unruhe. Aber ihre Farbe bleibt immer noch weiß und frisch.
Mein Lieblingswetter in diesen Jahren war der Schneesturm, vielleicht weil er so gut zu meinem Seelenzustand passte. Ich liebte es, mittendrin zu sein; er gab mir etwas von seiner Kraft ab und ich glaubte wieder, dass es in dieser freudenleeren Welt doch ein wenig Glück für mich gab.
Ich bin dreißig. Es ist Winter – schon wieder der verhasste Winter! Der graue, schmutzige Schnee, der überall herumliegt, das Glatteis, das immer so gefährlich ist, der Frost, das ständige Gefühl der Kälte, des Frierens …
In der Wohnung ist es kalt und morgens muss man sich zum Aufstehen zwingen. Der Gedanke, dass es am Arbeitsplatz noch kälter ist, macht das Ganze zusätzlich unangenehm. Außerdem steht mir der Weg zur Arbeit bevor, den ich durchhalten muss – langes Warten an der Haltestelle, oft bei -30°, Fahrt im Bus, der zum Brechen voll ist, die Gefahr, beim Anhalten aus dem Bus herausgestoßen zu werden …
Wo ist der Winter meiner Kindheit geblieben? Der weiße, blitzsaubere Schnee? Die frostige belebende Frische? Wo sind meine seltsamen, verrückten Gedanken? Kann man sich so verändern? Ist in dieser sorgenvollen Frau nichts mehr von dem Mädchen der 60er Jahre geblieben?
Jetzt ist es wieder Winter. Winter in einem ganz anderen Land, in einem Land, das zu meiner zweiten Heimat geworden ist. Ich mag den Schnee und die Kälte immer noch nicht, obwohl die meiste Winterzeit hier ohnehin schneelos und grau ist. Aber manchmal träume ich von einer anderen, vertrauten Kälte, von glitzernden, leichten Schneeflocken, vom Schneesturm. Ich sehe ein Mädchen, das im frischen Schnee herumtollt und ich weiß, das Mädchen – das bin ich. Der Winter, in dem es gelebt und gefühlt hat – das ist mein Winter. Er ist immer noch in mir; mit mir und dem jetzigem Winter fest verbunden – Schnee mit Regen, Weiß mit Grün, Frost mit Frische. Und Gedanken mit Gedanken. Anders kann es auch nicht sein. .

1996

https://www.rosa-andersrum.de

Autor:

Rosa Ananitschev aus Hemer

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