"Politisch zusammengeflicktes Versuchslabor?"

Kritisch mit dem gemeinsamen Schulkonzept von CDU, FDP und UWG setzen sich Silvia Burow, Elke Huth, Berthold Oberven und Petra Schlottmann in einem Leserbrief auseinander, den wir an dieser Stelle in ungekürzter Fassung veröffentlichen:

"Was kann die „bürgerlichen“ Parteien getrieben haben, so ein Konzept zu beschließen? Welche Gedankengänge führen zu so einem erschreckenden Ergebnis? Es ist einfach nicht nachzuvollziehen. Die vorhandenen Probleme werden nicht gelöst, im Gegenteil, die Zukunft wird noch schwieriger. Die Hauptschule, die zu Recht bis vor kurzem noch unter dem besonderen Schutz der „bürgerlichen“ Parteien stand, wird mit einem Federstrich liquidiert. Die Realschule wird mit leeren Versprechen auf Stärkung und eine zusätzliche
Finanzspritze aus dem überstrapazierten Schulpauschalen-Topf zur Urbecker Str. umgesiedelt. Jedoch sollte man erst den Kassensturz machen und dann das Geld verteilen. In den Leitsätzen zum Konzept fehlt der Grundsatz, dass allen Schulen die Mindestausstattung zur Verfügung gestellt werden muss. Es genügt nicht, einer Schule einen Namen zu geben und sie unter dem Etikett einer Schulform anzubieten. Nur wenn die äußeren Bedingungen stimmen und nach dem entsprechenden pädagogischen Konzept gelehrt werden kann, sind die Voraussetzungen erfüllt. Die Mindestausstattung für Gesamtschulen als gebundene Ganztagsschulen geht über die Bereitstellung von Klassenräumen weit hinaus. Dies wird vom Schulträger und der Politik ignoriert. Die Gesamtschule ist leider auch im dritten Jahr noch ein Provisorium, das nur aufgrund der überragenden Leistungen der Schulleitung und dem großen Engagement der Lehrerschaft erfolgreich arbeitet. Der geleistete Einsatz geht weit über das zumutbare Maß hinaus. Wenn schon die Probleme für die bestehende 4-zügige Gesamtschule aufgrund der fehlenden Finanzmittel unlösbar sind, wie soll dann ein Raumprogramm für eine funktionierende 6-zügige Schule umgesetzt werden? Die Ablehnung des SPD-Antrags auf
5-Zügigkeit liegt noch kein Jahr zurück und an den Umständen hat sich nichts geändert. Jetzt die 6-Zügigkeit zu beschließen, in der Hoffnung, irgendwie wird es schon gehen, ist in höchstem Maße unverantwortlich.
Diesen abenteuerlichen Plan unter dem Vorwand durchzuführen, dass alle Kinder an der gewünschten Schule angenommen werden sollen, ist besonders verwerflich, wenn die notwendigen Voraussetzungen ignoriert und nicht geschaffen werden. Hier werden Hoffnungen geschürt, die später wie Seifenblasen zerplatzen. Für den unbeteiligten Beobachter hört sich die Planung eventuell noch schlüssig an. Skeptisch müsste man jedoch schon deshalb werden, wenn man aus den Nachbarstädten hört, dass Schulformänderungen Millioneninvestitionen erforderlich machen. Nur in Hemer ist man schlau, da schiebt man ein paar Schüler/innen von A nach B und schon passt es? Aber auch unter pädagogischen Gesichtspunkten ist die Kehrtwende der „Bürgerlichen“ bemerkenswert. Die Ablehnung der Gesamtschule wurde von der CDU u. a. mit der notwendigen Drittelparität begründet: Zitat vom 10.04.2008: „Eine Gesamtschule müsse demnach einen differenzierten Bestand an Schülern mit Haupt- Real- Gesamt- und Gymnasialempfehlungen aufweisen, um genehmigt zu werden. Dieses sei in der Praxis nach Ansicht der CDU nur schwer möglich.“ Falsch! Die Drittelparität wurde und wird noch in der Gesamtschule Hemer eingehalten! Jedoch nach dem neuen Schulkonzept ist dies unmöglich. Weiterer Ablehnungspunkt für die CDU war: Zitat vom 10.04.2008: „ Ein verfehltes und überholtes pädagogisches Konzept... Während es für Schüler wichtig ist, in kleinen Einheiten und überschaubaren Umfeldern lernen zu können, klare Bezugspersonen und Orientierungshilfe zu haben, wie es. z..B. in unseren beiden Hauptschulen der Fall ist, kann ein komplexes und großes Konstrukt einer Gesamtschule
zur Überforderung führen“, so Gropengießer weiter.“ Diese Aussagen galten für die Genehmigung der 4-zügigen Gesamtschule. Genau gegen diese Argumente vier Jahre später eine 6-bis 7-zügige Gesamtschule zu fordern, dokumentiert das rücksichtslose und gewissenlose Vorgehen. Bemerkenswert ist auch der Schluss der damaligen Ausführungen: Zitat vom 10.04.2008:“Als letztes warnen die Christdemokraten vor einer Zerstörung der bestehenden Hemeraner Schulstruktur. Die Einrichtung einer neuen weiterführenden
Schulform führe zu erheblichen Schülerwanderungen, von denen alle Schulen betroffen sein würden. „Damit wird den Hauptschulen der Todesstoß versetzt“, führt Gropengießer aus und appelliert noch einmal am Festhalten des dreigliedrigen Schulsystems.“ Diese Vision hatte etwas Realistisches. Aber was ist das für eine Einstellung zur Schule? Das Schicksal von Schulformen wird höher bewertet als die von Eltern und Schüler/innen bevorzugte Schullaufbahn? Es kann doch nicht sein, dass die Schüler/innen nach dem
vorhandenen Schulsystem beigebogen werden, anstatt Möglichkeiten zu schaffen, gewünschte Schulformen anzubieten. Die Schüler/innen sind nicht für die Schulen da sondern die Schulen für die Schüler/innen. Daher sollte darüber nachgedacht werden, was in den nächsten 10 Jahren von den Schulen erwartet wird. Nach den Erfahrungen der letzten vier Anmeldejahren ist die stärkste Nachfrage bei der Gesamtschule. Da aufgrund der begrenzten Kapazität viele abgelehnt werden müssen, wandert mindestens je eine Klassenstärke zur Real- und Hauptschule ab. Was macht die Gesamtschule so attraktiv gegenüber den übrigen Schulen? Der Ganztag allein kann es nicht sein, den bieten auch das Gymnasium und die Hauptschule an. Dann schon eher, dass das (Zentral)Abitur erst nach 13 Jahren abgelegt wird. Hauptgrund ist jedoch, das längere gemeinsame Lernen ohne frühzeitige Festlegung des Abschlusses. Damit ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die Schulkarriere erfolgreich abzuschließen. Ein reichhaltiges Angebot von Förder- und Fordermaßnahmen greift unterstützt ein. Das so entspanntere Lernen, weitgehend ohne Druck von Klassenwiederholung und Abschulung, fördert die Entfaltung von Fähigkeiten. Schüler/innen, die aus verschiedensten Gründen
von ihren Familien nicht helfend im Schulalltag begleiten werden können, haben größere Chancen. Den Rückschluss zu ziehen, „wenn alle auf die Gesamtschule wollen, machen wird sie eben größer und dann ist Ruhe“, ist nur eine vermeintlich schnellere Lösung, aber bestimmt zu kurz gedacht. Deshalb müsste die Alternative „Sekundarschule“ (salopp gesagt: die kleine Schwester der Gesamtschule) in die Überlegungen einfließen. Das gewünschte längere gemeinsame Lernen ist vorhanden, die pädagogischen Konzepte sind mit der Gesamtschule kompatibel und der Unterricht bietet von Anfang an auch gymnasiale Standards. Obwohl die Sekundarschule keine eigene Oberstufe hat, muss durch eine Kooperation mit einer Gesamtschule oder einem Gymnasium sichergestellt sein, wo das (Zentral)Abitur zu erlangen ist. Für Hemer würde sich die Gesamtschule dafür anbieten. Dann wäre durch eine enge Zusammenarbeit von Gesamtschule und Sekundarschule ein späterer Übertritt in die Oberstufe der Gesamtschule ein ganz normales Weitergehen in einem vertrauten System. Die Sekundarschule wäre eine gute Ergänzung zum Gymnasium und zur Gesamtschule. Es darf nicht unser Bestreben sein, Schulformen als Institutionen zu retten. Es gibt keine herbeigeführte Schwächung von Haupt- oder Realschule, es gibt nur eine Anpassung an
die geänderten Anforderungen. Das ist dann kein Verlust sondern eine Bereicherung. Wer die Schulbildung fördern will, sollte sich ohne ideologische Vorurteile informieren. Bei den Schüler/innen liegt ein gewaltiges Potenzial brach. Unsere Gesellschaft braucht aber dringend junge Menschen, die motiviert und gut ausgebildet die nächsten Generationen bilden. Der Schulbesuch in der selbstgewählten Schulform mit einem erfolgreichen
Abschluss sollte dafür auch in Hemer ein Baustein sein. Wem es wirklich um eine Problemlösung geht und wer einen breiten Konsens anstrebt, kann sich nicht mit dem Vorschlag der „bürgerlichen“ Parteien anfreunden. Unsere Kinder
sollen eine funktionierende Schule besuchen, jedoch kein politisch zusammengeflicktes Versuchslabor."

Autor:

Christoph Schulte aus Hemer

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