Der Tag, der das verzauberte Morgenland aufgehen ließ

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Ali Baba und die vierzig Tänzerinnen (eine Geschichte aus 1001 Hüftschwüngen) standen vor den verschlossenen Flottmann-Hallen und riefen laut "Libanesischer Sesam-Grießkuchen, öffne dich!" und es geschah, dass Herne in diesem Moment der am reichsten betuchte Ort war — und zwar mit Tuch aller Farben. Das ging ja flott, Mann!

In meinem Denkapparat — das muss ich kurz zu Protokoll geben — gibt es eine »Unterabteilung für angewandten Skeptizismus«, die von einem argwöhnischen, Tweed tragenden Zwerg beaufsichtigt wird. Als dieser die Up-to-Dance-Programmankündigung las, die versprach, mit orientalischem Tanz verzaubern zu wollen, schrieb der in einem Tweet: "Verzaubern! Das ich nicht lache! 'Verzaubert' soll ich werden… Uuh, da habe ich aber Angst, als weißes Kanickel wieder rauszuhoppeln".

Was soll ich sagen? Das Büro wird jetzt von einem bauchtanzenden Kaninchen geführt. Aber der Reihe nach…

Am Samstag lockten um die 200 Tänzerinnen von Nachmittags bis zum späten Abend (in drei verschiedenen Shows unter dem Banner »Im Zeichen des Orients«) über 300 Gäste an, die sich nicht nur zum dahocken und angucken eingefunden haben, sondern auch zum stöbern und kramen kamen. Denn es war nicht nur ein Thementag als Plattform für Tänzerinnen, nicht nur eine Tanzveranstaltung, sondern dort war auch ein Basar errichtet worden. Es gab Kleidung zu sehen, bei denen sogar persische Prinzessinnen leuchtende Augen bekommen hätten, um dann weinend festzustellen, dass der dort ebenfalls angebotene Schmuck noch mehr glänzt. Und dann würden ihre Tränen von den kunterbunten Stoffen aufgefangen werden, die die Tuchverkäufer anboten. Sowas nennt sich dann ökonomischer Kreislauf.
Und auch kulinarisch stand alles "im Zeichen des Orients".

Natürlich wurde den Gästen das geboten, was man auch bei dieser thematischen Ausrichtung erwartet — nur wurde dies um ein Vielfaches gesteigert:
Anmutiger oder feuriger Tanz, mal offensiv, mal verführerisch, und grundsätzlich mit zelebrierter Geschmeidigkeit in jeder Bewegung. Und immer und überall dieser Gestus der verschlungenden Hände, der nach Luft greifenden Finger; als ob sie sich in den von ihrer eigenen Bewegung verursachten Luftströmungen verheddert hätten, die Schlaufen lösen müssten, oder die eigens versprühten Funken wieder einfangen wollten. Oder wollen sie damit herbei locken — als sinnliche Vereinnnahmung des Publikums? Irgendetwas dazwischen wird es wohl sein.

Zu erleben gab es körpereigene Bewegungsmelder in Form von Glöckchen und Ketten, Taktgebung durch Zimbeln, Farben und Glitzer. Überhaupt so viele Farben, wie man sie nur einem besonders spendablen Prisma abluchsen könnte. Und funkelde Kostüme, von denen man sich fragt, ob sie vielleicht aus exotischen Schmetterlingsflügeln hergestellt, oder ob sie eher aus Hologramm-Überproduktionen der Bundes-Banknotendruckerei zusammen genäht wurden. Tücher und Schleier wirbelten im Kreis und kreuz und quer, es faszinierten rotierende Stofftücher, die flammenfarbig über die Bühne züngelten.

Aber Up to Dance, die Ausrichter von »im Zeichen des Orients«, wären nicht dieselben, wenn sie nicht die plan liegende, zur Verkrustung neigende Erwartungshaltung aufbrechen würden — damit das Neue, heiß brodelnde Unbekannte wie Magma daraus aufsteigen mag. Denn es wäre ein Leichtes, nur die altbekannten Stereotypien abzufertigen, aber wer sich dem Besonderen verschreibt, will neue Wege finden.
Wege, die sich kreuzen: Crossover eben.
Beethovens »Für Elise« mit indischem Tanz? Warum nicht! Oder zu den südafrikanischen Rave-Rappern »die Antwoord«? Das funktioniert! Moonwalk-Bauchtanz? Na, sicher! Die Kunst ist frei! Und der Tanz ist Kunst.

Staunen konnte man über feengleiche Lichtwesen, kreiselartig wirbelnde Kleider, auf dem Kopf balancierte LED-Echtwachskerzen und Echtwachs-Echtfeuerkerzen mit Blumendeko, über feminine Outlow-Beduinen, die sich fix in Mad Max-Kämpferinnen transformierten, indem sie mitten im Tanz die Aische, Verzeihung — ich bin grad zu sehr im Thema —, also indem sie mitten im Tanz ihre aschebetupften Finger dazu gebrauchten, archaische Kriegsbemalung auf ihre Gesichter zu bringen.

Die Tanzgruppen nährten sich dem Thema Orient also eindeutig auf zutiefst unterschiedliche, weil individuelle, vielseitige Weise.

Die ganze Veranstaltung war in gewisser Weise ein Crossover: facettenreicher und Popkultur-rezitierender Orientalismus in den Überbleibseln zurückliegender Industrie-Epochen, schnörkelwütige Verspieltheit inmitten funktional-wirtschaftlichem Setting.

Und nebenbei bemerkt…
Es ist herrlich amüsierend, wenn man die exotischen Namen der Tänzerinnen hört, und man sich gerade noch fragt, ob sie in babylonischer Quadratschrift oder sumerisch geschrieben werden, …und dann kommen die teilweise direkt aus'm Pott!

Ein politischer Kommentar will noch erlaubt sein: Völkerverständigung kann auch ohne Worte und auf Bühnenboden geschehen, so viel ist sicher. Da wäre es doch eine nette Idee, den Verein »Kubota« zu gründen: "Kulturinteressierte Bürger für die Orientalisierung der Tanzlandschaft". Irgendwie sowas.

Übrigens, diese Tanzfigur der ausgebreiteten Arme, dieses Vereinnahmende, Offenherzige, das beruht auf Gegenseitigkeit — denn das Publikum empfand diese lebensfreudige Zuneigung genauso zu den Künstlerinnen.

Und nun:
"bringt den Laptop auf der Sänfte herein, ich habe einen Reisebericht zu tätigen!
Und macht die Kamele bereit, ich habe eine Kiste güldener Zimbeln für mein Harem, und ich möchte vor Anfang der heißen Schreckensherrschaft der Sonne aufbrechen"

(…das brauch' bestimmt 'ne ganze Weile, dass sich dieser Orient-Stil bei mir wieder verflüchtigt…)

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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