Flüchtlingsschicksal in Unna-Massen: "Hier könnte das Leben sein"

“Wir haben ein Jahr in Todesangst gelebt”, erklärt Lazgin. Selbstmordanschläge auf offener Straße machten ein geordnetes Leben unmöglich. Und das sollte nicht die Zukunft sein, auch nicht für die zweite Tochter Dalgene(3).
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Ein Gespräch in der Erstaufnahmeeinrichtung in Massen

"In Deutschland könnte das Leben sein" - Flüchtlingsfamilie aus Syrien hofft auf Zukunft im Abendland
IS-Terror treibt Familie in Todesangst aus ihrem Heimatland - "Deutschland könnte das Leben sein"

“Mit Syrien ist es vorbei”, sagt Lazgin Ahmed(30) und meint sein Heimatland und das seiner Familie. Dort ist er geboren, besuchte die Schule und lernte den Beruf des Metallfacharbeiters. Zuletzt schweißte er Rutschen für das traditionelle Mutter-/Kindfest zusammen. Die letzte vor vier mehr als Jahren.

Denn seit Beginn der Terroranschläge und Ausbruch des Krieges im Zweistromland hatte er kein Werkzeug mehr in der Hand. Mit Geburt der Tochter Hengars (5) wurde seiner Frau Siham (27) und ihm klar, dass Syrien immer weniger eine Zukunft für sie bietet. “Frauen werden entführt, wir hatten Angst, unser Kind in den Kindergarten zu bringen”, erklärt Siham.

In ihre Augen schießen die Tränen, denkt sie an ihre Heimatstadt, deren Namen aus Sicherheitsgründen ungenannt bleibt, im Grenzstreifen zwischen Syrien und der Türkei. Seit einigen Wochen sind sie zu viert in einem Zimmer in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Massen untergebracht. In der Einrichtung, die durch das Land NRW betrieben und vom Deutschen Roten Kreuz organisiert wird, erhalten sie Vollverpflegung, Kleider aus dem Spendenfundus des DRK und der Kirchen. Im Schnitt nach zwei Wochen führt sie die Reise in ein Übergangsheim im Umkreis.

Als Schneiderin verdiente Siham den Lebensunterhalt mit, arbeitete in 12-Stunden-Schichten. “Es reichte trotzdem nur für das Nötigste.” Es blieb nur die Hoffnung, dass sich etwas verbessere. Als Lazgins Mutter schwer erkrankte waren notwendige Medikamente nur im Irak erhältlich. Also zog er mit der fast 90 Jahre alten Frau auf einem Esel hunderte Kilometer bis in das Nachbarland. Dort stellte sich die Arznei als unerschwinglich heraus, seine Mutter verstarb einige Wochen darauf. “Wir haben ein Jahr in Todesangst gelebt”, erklärt Lazgin. Selbstmordanschläge auf offener Straße machten ein geordnetes Leben unmöglich. Und das sollte nicht die Zukunft sein, auch nicht für die zweite Tochter Dalgene(3).

Frauen und Kinder schrien vor Angst

Sie hörten von Flüchtlingen, die es bis Deutschland geschafft hatten. “Deutschland hat die Grenzen anderer Länder auch für uns geöffnet”, so sieht es Siham. Den Entschluss zur Flucht fassten sie vor einigen Monaten, gaben einen Großteil ihrer Ersparnisse an einen Schleuser, der ihnen Plätze auf einem Boot vermittelte. “Uns wurde gesagt der Weg sei ganz einfach. Schließlich haben sie uns aufs Boot gezwungen.” Eine marodes Schlauchboot, ausgelegt für 35 Personen, vollgestopft mit fast 60 Flüchtlingen. “Wasser musste ständig abgeschöpft werden, die Frauen und Kinder schrien vor Angst.”

Sechs Stunden waren sie in der Ägäis unterwegs. Auf ihrem Fuß- und Zugweg von Griechenland über Mazedonien und Ungarn bis Österreich und schließlich Deutschland nahmen ihnen Schleuser auch das letzte Geld mit Gewalt ab. “Ohne Geld keine Hinweise, in welche Richtung wir mussten”, berichtet Lazgin.

Dabei durchquerten sie auch Flüsse, die Kleidung war regelmäßig nass. Die Kinder erholen sich erst jetzt von ihren Erkältungen. Mangelhafte Ernährung machte sie anfällig für weitere Krankheiten.

Jetzt in der Erstaufnahme strahlen ihre Augen, als sie zwei weiße Kleider im Stil ihres Heimatlandes geschenkt bekommen. Ganz aufgeregt tanzen sie in ihrem Zimmer vor dem Spiegel. Doch auf die Unbefangenheit folgt Unsicherheit, bei jeder raschen Bewegung, schon der schwarze Fotoapparat macht ihnen Angst. Was es ist, sie können es nicht benennen – Erinnerungen warten auf Verarbeitung irgendwann in der Zukunft.

"Ein Wiedersehen wird es wohl nicht geben"

Denken Lazgin und Siham an Syrien, ist es sofort ihre kleine Familie dort, die nicht an Flucht denkt. “Ein Wiedersehen wird es wohl nicht geben”, fürchten beide. “Für Syrien ist alles vorbei.”

Mit Deutschland verbinden sie vor allem Sicherheit für ihre Kinder. Eine gute Schulbildung sollen sie bekommen, Chancen auf ein freies Leben. Bald beginnt ein Deutschkurs für die Eltern. Eine Tagesstätte für die Mädchen möchten sie finden. Doch bevor die Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt ist, der Transfer noch weitergeht, bleibt ihnen nichts als zu warten.

Heimat, das bedeutet für sie Wünsche haben zu dürfen und darauf hin zu arbeiten und vor allem eines: “Frieden”. Für Lazgin besteht sein größter Wunsch aus fünf Worten -“In Deutschland könnte das Leben sein.”

Autor:

Stefan Reimet aus Holzwickede

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