Hartz-IV-Sanktionen verfassungswidrig ? - Streitgespräch vom 25.6.2013

Berlin. „„Sanktionen im SGB II -- nur problematisch oder verfassungswidrig?"
Unter dieser Überschrift fand am 25.6.2013 in Berlin ein Streitgespräch zwischen Wolfgang Nešković (Richter am Bundesgerichtshof a. D., unabhängiger Bundestagsabgeordneter) und Prof. Dr. Uwe Berlit (Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht) statt.

Anlass war der Aufsatz von Wolfgang Nešković und Isabel Erdem: "Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV" (in: Die Sozialgerichtsbarkeit, Nr. 03/12) von dem wir (AG Sanktionen der Berliner Kampagne gegen Hartz IV) vermuteten, dass er außerhalb der Fachöffentlichkeit nur punktuell bekannt geworden ist.

Die Frage der Verfassungskonformität der Sanktionsregelungen ist -- wenngleich faktisch nur aus Sicht einer kleinen Minderheit der JuristInnen -- seit Jahren umstritten. Während das Gros der JuristInnen der Meinung ist, es käme "nur" auf eine verfassungskonforme Anwendung der Regeln an, sieht besagte Minderheit vor allem Teilbereiche als nicht verfassungskonform an. Nešković/Erdem dagegen argumentieren, die Sanktionsregelungen seien grundsätzlich verfassungswidrig.“

Das beinahe dreistündige Gespräch wurde durchaus kontrovers geführt, wobei nicht nur Nicht-Juristen bisweilen die alltagstaugliche Lebensnähe fehlte. Während Wolfgang Nešković sich klar gegen die Sanktionspraxis des SGB II insgesamt positionierte und engagiert das unveräußerbare Existenzminimum verteidigte, vertrat Prof. Dr. Uwe Berlit eine eher moderatere Auffassung. Zur Festigung seiner Argumentation bezog er sich eng auf juristische Grundsätze.

Die wichtigsten Argumente von Wolfgang Nešković, MdB und Prof. Dr. Uwe Berlit geben eine kurze Einführung in das Thema.

100 Prozent sanktioniert – 100 Prozent verfassungswidrig

Wolfgang Nešković wies darauf hin, dass nach Auffassung des Bundesverfassungsgericht der einzige Maßstab für die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums die gegenwärtige Bedürftigkeit der Betroffenen sein müsse. Damit seien Sanktionen grundsätzlich unvereinbar.

Aber auch Uwe Berlit räumte später ein, dass zumindest Teile der Sanktionspraxis ausdrücklich verfassungswidrig sind! Er benannte einzelne Regelungen als „sozialpolitischen Unsinn“ und forderte mit Blick auf psychisch Kranke, Analphabeten u.a. gesetzliche Nachbesserungen auch im Umgang mit unter 25jährigen, in der Sensibilisierung in der Dauer der Sanktionen, und wies auf die Probleme mit Mietschulden, Energiesperren und Ausschluss von den Krankenkassen hin. Sozialpolitisch sei viel zu tun, verfassungsrechtliche Bedenken sähe er eher weniger.
(Videobeitrag 1:51-1:55)

Auffällig war Berlits sachlich-kalte Anmerkung über „die kleine Gruppe der 100%-Sanktionierten“ . . . (Immerhin mehr als 10.000 im Jahr 2011.)

Wolfgang Neškovi appellierte an die anwesenden Sozialrichter, die Frage der Sanktionen schleunigst dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Ein Vorlagebeschluss sei zwar "extrem viel Arbeit", aber ein Richter, der eine Norm für verfassungswidrig halte, sei von Gesetz wegen zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet.
Zusammenfassung

Alle Sozialrichter haben gemäß Art 100 GG die ausdrückliche Verpflichtung vor und bei der Anwendung des SGB II die Verfassungskonformität der – sich ständig wandelnden Hartz IV-Rechtsprechung – abzuprüfen und gegebenenfalls das Verfahren auszusetzen und einen Vorlagebeschluss beim Bundesverfassungsgericht einzureichen.

Als der Vorsitzende Richter am Bundesverfassungsgericht, Präsident Prof. Dr. Dres.h.c. Hans-Jürgen Papier, am 09.02.2010 das Urteil in dem Verfahren - 1 BvL 1/09 -1 BvL 3/09-1 BvL 4/09- verlas, war die Entscheidungsbegründung für die verantwortlichen Bundesregierungen unter Gerhard Schröder und Angela Merkel eine peinliche Blamage. Dies gilt umso gravierender, als ein Großteil der Abgeordneten Juristen sind. Peinlich auch für die weit über dreihundert im ALG II-Bereich tätigen Sozialrichter, von denen nur die Wenigsten die Verfassungswidrigkeit der Hartz IV-Regelsätze überhaupt in Betracht gezogen hatten. Nur einzelne entschlossen sich zum Vorlagebeschluss – alle anderen irrten!
beispielklagen.de

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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