Bundesverfassungsgericht
Urteilsverkündung in Sachen „Sanktionen im SGB II“

In einer Pressemitteilung Nr. 61/2019 vom 01.10.2019 teilt das Bundesverfassungsgericht die Urteilsverkündung in Sachen „Sanktionen im SGB II“ für Dienstag, 5. November 2019, um 10.00 Uhr mit.
Aktenzeichen: 1 BvL 7/16

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts wird auf Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2019 (siehe Pressemitteilung Nr. 85/2018 vom 10. Dezember 2018 und Nr. 4/2019 vom 10. Januar 2019) am Dienstag, 5. November 2019, um 10.00 Uhr,im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe sein Urteil verkünden.

Das Urteil wird bereits mit Spannung erwartet.

Die Bedeutung von Sanktionen im Sozialgesetzbuch

Ähnlich wie bei der Diskussion über die Todesstrafe, gibt es auch bei der Sanktionspraxis der Jobcenter klare Befürworter und radikale Gegner. Seit der Einführung der Agenda 2010 im Jahr 2005 befürwortet der überwiegende Teil der Regierungspolitiker die Sanktionspraxis im SGB II. Ohne Gewissensbisse wurde dabei z.B. der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art 3 GG) ausgehebelt und die Gruppe der jungen Erwachsenen unter 25 Jahre mit Existenzbedrohenden Kürzungen überzogen, einem geradezu menschenverachtenden Strafmaß.

Der frühere Sozial- und Gesundheitsminister Heiner Geißler (CDU) bezeichnete das Hartz-IV-Gesetz schon vor Jahren als grundgesetzwidrig. " [...]
"Die Kürzung einer Leistung unter die Höhe des Existenzminimums sei eine derart schwere Strafe, wie sie in einem Strafprozess kaum verhängt werde. Eine Strafe dürfe nämlich die Existenzgrundlage nicht entziehen."

Keine stichhaltigen Gründe für  den Nutzen von Sanktionen für die Integration auf den ersten Arbeitsmarkt

Während es eine Mehrzahl von Untersuchungen gibt, die auf die negativen Wirkungen durch Sanktionen hinweisen wie Überschuldung, Wohnungsverlust, psychische Belastung und eine neue Form von Sippenhaft, gibt es wohl keine Studie, die die gängige Sanktionspraxis als zielführend angemessen benennt. 

Bevorzugt "Stiefellecker" und Mitarbeiter mit sadistischen Neigungen?

Die Sanktonspraxis des SGB II stößt auch bei vielen Jobcenter-Mitarbeitern auf Unverständnis und wird durchaus kritisch gesehen. Aber wie auch bei dem berühmt-berüchtigten Migram-Experiment dominiert bei den meisten die Abhängigkeit vom Arbeitgeberwillen. Darüber hinaus gibt es auch Mitarbeiter, die Sanktionen persönlich als Machtinstrument missbrauchen, um die Hilfesuchenden gefügig zu machen. "Hier darf ich Gott spielen," tönte 2015 ein Jobcenter-Mitarbeiter selbstherrlich in das versteckte Mikrofon des Undercover-Reporters von Günter Wallraff  in der Reportage „Wenn der Mensch auf der Strecke bleibt“. Wallraff und sein Team offenbarten gravierende Missstände in deutschen Jobcentern.

Solange wie möglich sanktionieren ...? 

„Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“
Mahatma Gandhi

In den Mauerschützenprozessen ging es  un den Tötungsauftrag für Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze.

"Unter dem Begriff Schießbefehl werden die Anweisungen an Grenzsoldaten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zusammengefasst, an der innerdeutschen Grenze auf Flüchtlinge scharf zu schießen. Das allgemeine Wissen um ihre Anwendung verlieh den Absperrmaßnahmen der DDR an ihren Grenzen, die den Flüchtlingen galten, die nötige Glaubhaftigkeit. Die Anweisungen bestanden in unterschiedlicher Form von 1960 bis 1989 und widersprachen zum Teil auch geltendem DDR-Recht. Den Grenzsoldaten wurde bei der Einweisung in die Schusswaffengebrauchsvorschriften erklärt, dass Fluchtversuche in jedem Fall und mit allen Mitteln zu verhindern seien. Formal legalisiert wurde die Praxis erst 1982 durch § 27 des Grenzgesetzes. SED-Politiker und DDR-Militärs haben vor Gericht die Existenz eines „Schießbefehls“ bestritten. Erschießungen an der Grenze wurden gegenüber der Öffentlichkeit verheimlicht, intern aber belohnt. Ab April 1989 wurde der Schießbefehl ausgesetzt bzw. der Schusswaffengebrauch auf Bedrohung des eigenen Lebens der Grenzsoldaten beschränkt.[1]"   Schießbefehl

"Für das Gericht ist die Frage nach der Schuld der Angeklagten schwierig zu beantworten. Staatsanwalt Christoph Schaefgen: "Es war die Frage zu klären, ob diese Soldaten berechtigt waren, den 'Grenzverletzer' notfalls zu erschießen. Und da beriefen sich die Verantwortlichen der DDR auf das sogenannte Grenzgesetz oder auf die Befehlslage insgesamt und meinten nach dem Recht der DDR sei das alles in Ordnung gewesen. Das war juristisch schwer zu widerlegen." Der Todesschütze wird schließlich zu vier Jahren Haft verurteilt, die Mitangeklagten zu Bewährungsstrafen. Das Bundesverfassungsgericht hebt das Urteil gegen den Todesschützen aber wieder auf. Begründung: Das Strafmaß sei zu hoch gewesen, da der Schütze in der militärischen Hierarchie ganz unten gestanden und nur auf Befehl gehandelt habe."
mdr

Also "ganz unten in der Hierarchie" darf man töten?

Parallelen zum Thema "Gewissenskonflikt und bedingungslose Unterwerfung unter bedenkliche Dienstanweisungen" finden sich in vielen Facetten in der Geschichte. 

Alles richtig gemacht hatten auch die KZ-Wachmänner im Dritten Reich. Hier stand der Gewissenabwägung noch die Bedrohung durch den Nazi-Terror gegenüber. Die Aufbereitung der deutschen Vergangenheit wurde jahrelang verschleppt. So gestalten sich Verfahren wegen "Beihilfe zur Ermordung hunderter Häftlinge" eher zu Schauprozessen. 
 Letzter Prozess gegen einen KZ-Wachmann? Massenmord im KZ Stutthof: 94-jähriger Ex-Aufseher steht jetzt vor Jugendkammer

"Am 1. Januar 1945 befanden sich laut der im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt geführten Statistik 706.648 Häftlinge in KZ-Haft. 39.969 Personen arbeiteten für die SS in den Lagern. Zehn Monate zuvor, im März 1944, hatte man noch etwa 300.000 Häftlinge in den 22 Haupt- und 165 Außenlagern verzeichnet, bis August 1944 war die Zahl bereits auf 524.000 gestiegen. Mehr als 250.000 der im Januar 1945 registrierten KZ-Häftlinge sollten die Befreiung der Lager wenige Wochen später nicht mehr erleben."
Morden bis zum Ende

Als ein drittes Beispiel kranker und irregeleiteter Hörigkeit bewegt mich die Geschichte der  Hexenverfolgungen
"Als Hexenverfolgung bezeichnet man das Aufspüren, Festnehmen, Foltern und Bestrafen (insbesondere die Hinrichtung) von Personen, von denen geglaubt wird, sie praktizierten Zauberei bzw. stünden mit dem Teufel im Bunde. In Mitteleuropa fand sie vor allem während der Frühen Neuzeit statt. Global gesehen ist die Hexenverfolgung bis in die Gegenwart verbreitet."
Hexenverfolgung

Auch diese Mörder und Mordgehilfen beriefen sich auf eigene Legitimation.

Die Sanktionspraxis der Jobcenter unterscheidet sich im Strafmaß.  Es geht dabei nicht um Tötungsdelikte, nicht um Mord oder Folter.  Allerdings gibt es gerade bei 60%- und 100%-Sanktionen auch Nachweise von Existenzvernichtung, psychischen und körperlichen Auswirkungen.

Auffällige Ähnlichkeiten zeigen sich jedoch bei der "Pseudo-Legitimation" durch minderwertiges Recht (SGB II) gegenüber dem Menschenwürdegebot (Art 1 GG) und dem Sozialstaatsgebot (Art 20 GG).
Diese offene Missachtung des Grundgesetzes wird durch die Regierungsparteien seit 2005 getragen.

Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht

Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung
1 (1946).
"Rechtssicherheit ist nicht der einzige und nicht der entscheidende Wert, den das Recht zu verwirklichen hat. Neben die Rechtssicherheit treten vielmehr zwei andere Werte: Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit. In der Rangordnung dieser Werte haben wir die Zweckmäßigkeit des Rechts für das Gemeinwohl an die letzte Stelle zu setzen. Keineswegs ist Recht  alles das, "was dem Volke nützt", sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt."

"Wo ein Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, zwischen einem inhaltlich anfechtbaren, aber positiven Gesetz und zwischen einem gerechten, aber nicht in Gesetzesform gegossenen Recht entsteht, liegt in Wahrheit ein Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst, ein Konflikt zwischen scheinbarer und wirklicher Gerechtigkeit vor. Diesen Konflikt bringt großartig das Evangelium zum Ausdruck, indem es einerseits befiehlt: "Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat", und doch anderseits gebietet, "Gott mehr zu gehorchen als den Menschen". Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als "unrichtiges Recht" der  Gerechtigkeit zu weichen hat."
Axel Tschentscher - Einführung in die Grundprinzipien des Rechts

Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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